Zusammenfassung
In der Rahmenerzählung, wo das Haus die Spinne sicher verwahrt, stellt sich die sogenannte Sündennatur des Menschen viel harmloser dar als in den Krisen, von denen die ›Sage‹ berichtet; es ist auffälligerweise nicht die Kirche oder die Gemeinde, welche den Menschen vor sich selbst schützt, sondern das sittlich und religiös wiederhergestellte Haus. Der universelle Anspruch der christlichen Lehre hat die Interpreten der Schwarzen Spinne stets veranlaßt, die textinternen Glaubens- und Sittenlehren in ihrer allgemeinen Gültigkeit hervorzuheben.156 Dabei ist es ihnen entgangen, daß der Autor auch hier die spezifische Theologie und Ethik des christlichen ›ganzen Hauses‹ propagiert. Im Uli hatte er den sozialpädagogischen und sozialpolitischen Wert des Hauses betont, in der Schwarzen Spinne verleiht er dem Haus eine kultische Aura. Zuzeiten, so erzählt die Sage, wurde es »fast wie eine Kirche« geachtet. (XVII, 78) Nur häuslicher Sinn kann frommer Sinn heißen. Das Haus ist der Tempel des allgemeinen Priestertums (s.u. S. 254), hier verbinden sich Lehre und Leben. Nicht in der Kirche oder Gemeinde, sondern in der Familie sind die Heiligen der Binnenerzählung am unmittelbarsten gegenwärtig; hier erinnert man sich ihrer am längsten. Selbst der sich opfernde Priester wird ein Familien- und Volksheiliger, nicht ein Kirchenheiliger. Geschichtliche Veränderungen dringen kaum, die Reformation der Kirche scheinbar gar nicht ins Bewußtsein der Sage. Seit über 600 Jahre steht das Haus des Hornbachbauern am gleichen weltfernen Ort und hat mit beispielloser Beständigkeit eine selbstbezogene Form der Frömmigkeit ausgebildetet.
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Literatur
In diese Richtung gehen die Interpretationen von Jost Hermand: Napoleon und die schwarze Spinne. Ein Hinweis: In: Monatshefte für den deutschen Unterricht 54 (1962), S. 225–231; Klaus Lindemann: Jeremias Gotthelf: Die schwarze Spinne. S. 102–113. — Sengle schreibt mit Bezug auf Hermand: »die Frage, ob die schwarze Spinne die Revolution meint, geht am Zentrum der Novelle vorbei. Die schwarze Spinne meint den Teufel, der für Gotthelf nach alter Sitte in allerlei Gestalten erscheint. Wenn auch eine dieser Gestalten die Revolution ist, verfehlt derjenige die Meinung des Dichters, der das ewige übernatürliche Wesen auf eine historische oder gesellschaftliche Größe reduziert.« (F. Sengle: Biedermeierzeit. Bd. 1. S. 367.) Lindemann hat diese Warnung zwar verarbeitet (S. 113), aber an der vordergründigen Gleichsetzung Gotthelfs mit einem antirevolutionären Anhänger der »Heiligen Allianz« hat sich bei ihm nichts geändert.
Vgl. Werner Conze: Das Spannungsfeld von Staat und Gesellschaft im Vormärz. In: Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz 1815–48. Hg. W.C. Stuttgart 1962. S. 207–69.
Vgl. Winfried Bauer: Jeremias Gotthelf. Ein Vertreter der geistlichen Restauration der Biedermeierzeit. Stuttgart [usw.] 1975, S. 152–157.
Paul Münch: Die ›Obrigkeit im Vaterstand‹. Zu Definition und Kritik des ›Landesvaters‹ während der frühen Neuzeit. In: Daphnis 11 (1982). S. 15–40. Weitere Literatur ebda., S. 17, Anm. 3.
Hans Bayer: Theologische Quellen und epische Gestaltung. Gotthelfs idealer Pietismus. In: DVjS 54 (1980). S. 423–463.
Franz Schnabel: Die Geschichte im 19. Jahrhundert. Bd. 4: Die religiösen Kräfte. 2. Aufl. Freiburg: Herder 1951; Ernst Rudolf Huber, Wolfgang Huber: Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert. Dokumente zur Geschichte des deutschen Staatskirchenrechts. 2 Bde. Berlin: Duncker u. Humblot 1976.
Luther hatte die kirchlichen Ämter z.T. auf das allgemeine Priestertum gegründet, s. Althaus: Die Theologie Martin Luthers. S. 279. — Ähnlich Gotthelf: Antwort auf die vierzehn bekannten Fragen vom Pfarramt Lützelflüh. (1851.) SW EBd. 11. S. 242–46. Hier S. 245 f.
Klaus Müller-Salget: Erzählungen für das Volk. Evangelische Pfarrer als Volksschriftsteller im Deutschland des 19. Jahrhunderts. Berlin: Schmidt 1984. S. 157 f.
(Christian Hermann) Weiße: Jeremias Gotthelf und der moderne Pietismus. In: Protestantische Kirchenzeitung für das evangelische Deutschland. 9.8.1856 (= Nr. 32). Sp. 747–758. Hier Sp. 149 f.
Heinrich Heine: Die romantische Schule. In: Ders. Sämtliche Schriften. Hg. Klaus Briegleb. Bd. 3. München: Hanser 1971. S. 869.
Michael Werner: Heine und die Frühsozialisten. In: IASL 7 (1982), S. 88–108.
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Hahl, W. (1994). Die schwarze Spinne — ein Dokument des literarischen Kulturkampfs. In: Jeremias Gotthelf — der »Dichter des Hauses«. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03499-1_9
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