Zusammenfassung
Im April 1866 zog Sainte-Beuve, der führende Literaturkritiker der französischen Romantik und in mancher Hinsicht ein französischer A. W. Schlegel, in einem Essay über Port Royal eine Bilanz der von ihm als revolutionär charakterisierten Veränderungen in der Geschichte der französischen Literatur seit Beginn des 19. Jahrhunderts:
»Unsere Vorstellungen über die Poeten haben sich seit einigen Jahren nahezu vollständig gewandelt. Es geht nicht mehr um die Frage Klassik oder Romantik; es handelt sich um anderes als um eine Etikette, als um Versbrüche und Einheiten, Formen und Farben. Es handelt sich um die Grundlage und um den Kern unserer Urteile, um die üblichen Einstellungen und Prinzipien, nach denen man empfindet und von denen man betroffen wird. Werde ich diese neue Lage, diese beinahe allgemein gewordene Richtung des Geistes genau wiedergeben können? Früher, während der literarischen Regelperiode, der sog. klassischen, hielt man den für den besten Dichter, der das vollkommenste Werk komponiert hatte, das schönste Gedicht, das klarste, das am angenehmsten zu lesende, das in jeder Hinsicht vollendetste, die Àneisz. B., das Befreite Jerusalem, eine schöne Tragödie. Heute verlangt man anderes. Für uns ist derjenige der größte Dichter, der dem Leser in seinen Werken am meisten zu phantasieren (imaginer) und zu träumen gibt, der ihn am meisten anregt, selbst zu dichten (à poétiser). Nicht der ist der beste Dichter, der am besten geschaffen hat: derjenige ist es, der am meisten suggeriert, von dem man nicht gleich von vornherein weiß, was er alles sagen und ausdrücken wollte, der euch vielmehr viel zur eigenen Vollendung überläßt. Niemand erregt mehr Bewunderung als diese unfertigen und unausschöpflichen Dichter, denn man wünscht sich von jetzt ab, daß die Poesie ebenso im Leser ist wie beim Autor. Seit die Kritik geboren wurde und groß geworden ist, seit sie alles besetzt, über alles urteilt, liebt sie kaum die poetischen Werke, die von perfekter und definitiver Aufklärung umgeben sind. Sie weiß damit nichts anzufangen. Das Vage, Dunkle, Schwierige, wenn es mit etwas Größe gepaart ist, sind eher ihr Fall. Sie braucht für sich selbst Baumaterial und Stoff zur Arbeit … Es mißfällt ihr auch nicht das Gefühl (sentiment), das sie in die Schöpfung mit einbringen wird.« (Sainte-Beuve 1866, 1927, S. 147 f. Meine Übers.)
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Notizen
Vgl. dazu C. Pichois, »Le procès des ›Fleurs du Mal‘». In: Charles Baudelaire, Oeuvres Complètes (Ed. C Pichois), Paris 1975, Bd. I, S. 193–196.
Sainte-Beuve, Profils et Jugements littéraires, Bd. 1–3, Paris 1927; Bd. 3, S. 13 u. S. 20.
Im Vorwort zur Ausgabe seiner Portraits littéraires konstatierte Sainte-Beuve 1836, daß er nicht wisse, ob er seine Portraits dazu rechnen könne: »Ce qu‘on appelle littérature, d‘ailleurs, a pris un tel accroissement de nos jours que, par elle, on se trouve introduit et induit sans peine à toutes les considérations sur la société et sur la vie. Je ne prends donc plus à cet égard ombre de détermination, surtout négative; je laisse ma série ouverte, heureux d‘y ajouter à chaque propos (toujours avec soin), le plus qu‘il me sera possible, et de ces Portraits, puisque la veine s‘y mêle, je ne dis même plus: Je n‘en ferai que cent.« (Sainte-Beuve, Oeuvres. Bd. I: Premiers lundis. Portraits littérature (début), Paris 1956, S. 635.)
Victor Hugo, Philosophie I. 1819–1834. Littérature et philosophie mêlées. Paris 1882 (Ed. Hetzel), S. 248. (»Notre ère poétique«.)
Gerd Schubrink, »Bedingungen der Professionalisierung von Wissenschaft. Eine vergleichende Übersicht zu Frankreich und Preußen«. In: lendemains (Westberlin), Nr. 19 (1980), S. 127.
Vgl. dazu im einzelnen Heinz Thoma, Aufklärung und nachrevolutionäres Bürgertum in Frankreich. Zur Aufklärungsrezeption in der französischen Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts. (1794–1914). (Studia Romanica 30. Ed. K. Baidinger). Heidelberg 1976, S. 159 ff.
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Barck, K. (1993). Distinktion von »Poesie« und »Literatur« als Voraussetzung eines modernen Poesiebegriffs. In: Poesie und Imagination. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03497-7_10
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