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Die Partitur als Drehbuch

Zur Visualisierung instrumentaler Vor- und Zwischenspiele in der Opernverfilmung. Eine musik- und filmdramaturgische Untersuchung am Beispiel des Carmen-Films (1983) von Francesco Rosi

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Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz
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Zusammenfassung

Angesiedelt im komplex verzweigten Problemfeld musik-, theater-, film- und medienwissenschaftlicher Fragestellungen wurde die filmische Adaptation von Opern noch von keiner der zuständigen Fachdisziplinen zum Gegenstand analytischer Untersuchungen erhoben. Während aus film- und fernsehwissenschaftlicher Sicht immerhin einige wenige Beiträge vor allem zu produktionstechnischen und medienästhetischen Aspekten zu verzeichnen sind2, zeigten sich die Musik- und Theaterwissenschaft zurückhaltend, ja prinzipiell ablehnend. Was die Situation in der Theaterwissenschaft betrifft, so ist die Ausgrenzung dieses Bereichs (beispielsweise im Rahmen der Aufführungs-, Dokumentations- und Rezeptionsforschung) auf die generelle Zurückhaltung dieses Fachs gegenüber der Oper zurückzuführen, die erst in jüngster Zeit durch dezidiert musiktheaterwissenschaftliche Forschungsansätze Würdigung, doch noch keineswegs umfassende Aufarbeitung fand3. Auch in der Musikwissenschaft liegt die ablehnende Haltung zum einen im Selbstverständnis des Fachs begründet, das die Opernforschung in ihrem fraglos grenzüberschreitenden, interdisziplinären Ansatz noch immer nicht voll integriert hat, zum anderen aber in der schier unumstößlichen Kategorie des musikalischen Werkbegriffs4, der nicht nur die Reproduktion des musikalischen und damit auch des musikdramatischen Kunstwerks in Frage stellt, sondern erst recht die auf Kommerzialisierung und Popularisierung ausgerichtete,Vermarktung‘ von Opern im Film verbieten muß5.

Viel eher noch als eine Musik, die zum Film komponiert ist, kann ich mir einen Film vorstellen, der zu einer Musik komponiert wird. Meines Wissens ist das noch nicht versucht worden, aber es könnte schon werden. Ich stelle mir eine Flucht von ganz irrationalen traumhaften Visionen vor, von solchen, die man beim Anhören eines Musikstückes hat. Bilder, die nicht von der logischen Notwendigkeit einer „verständlichen“ Handlung, sondern eben von den Stim-mungsströmungen der Musik bewegt werden und sich anpassen können. Vielleicht wird das noch eine eigene Kunstgattung werden?

Béla Balázs, 19241

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Endnoten

  1. Vgl. hierzu die Ausführungen von J. Schläder, Musikalisches Theater, in: R. Möhrmann (Hrsg.), Theaterwissenschaft heute. Eine Einführung, Berlin 1990, S. 129–148.

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  2. Verwiesen sei auf die den neuesten Diskussionsstand vorzüglich reflektierende Studie von W. Seidel, Werk und Werkbegriff in der Musikgeschichte, Darmstadt 1987 (= Erträge der Forschung, Bd. 246), bes. S. 39 u. 40.

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  3. Vgl. K. O. Koch, Die Technik der Opernproduktion im Fernsehen, in: Neue Zeitschrift für Musik 123, 1962, S. 168–172. J. M. Fischer, Prima le immagini, dopo la musica. Überlegungen zur Geschichte und aktuellen Situation der sogenannten „E-Musik, speziell der Oper im Fernsehen, in: H. Kreuzer, K. Prümm (Hrsg.), Fernsehsendungen und ihre Formen. Typologie, Geschichte und Kritik des Programms in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1979, S. 155–168; eine leicht modifizierte Version dieses Beitrags findet sich unter dem Titel Der Bilder gehorsarne Tochter? Zur Geschichte und Situation der Oper im Film und im Fernsehen, in: Jahrbuch der Bayerischen Staatsoper 1989/90, München 1989, S. 53–61. H. Chr. Schmidt, Musik im Fernsehen. Opernglanz auf Mattscheiben?, in: Musik und Bildung 1, 1980, S. 39 f., darin auch weitere Literaturhinweise zur Musik in Film und Fernsehen generell; ders., Poppea’s Peep Show. Noch einmal: Oper im Fernsehen — Fernsehen in der Oper, in: Musik und Bildung 12, 1980, S. 713–717; H.-K. Jungheinrich (Hrsg.), OperFilm — Rockmusik. Veränderungen in der Alltagskultur, Kassel u. a. 1986 (= Musikalische Zeitfragen 19), darin bes. die Artikel von G. R. Koch und W. Konold. Die erst kürzlich mit dem vielversprechenden Titel Die Oper im Film. Analysen des Produktionsapparates und der Regie an Hand von Giuseppe Verdis „Othelloin der Inszenierung für den Film von Walter Felsenstein, Frankfurt a. M. 1989 erschienene Dissertation von K. Körte ist nicht diskussionswürdig.

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  4. Aus der kaum überschaubaren Flut von Beiträgen seien hier lediglich Publikationen angeführt, die den neuesten Stand der Forschung umfassend reflektieren: H. Korte u. W. Faulstich (Hrsg.), Filmanalyse interdisziplinär, Göttingen 1988 (= Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, Beiheft 15), darin bes. W. Faulstich, Kleine Geschichte der,Filmanalyse’ in Deutschland, S. 9–19 (der Beitrag vermittelt einen vorzüglichen Überblick zur Entwicklung der Filmanalyse sowie eine umfassende chronologische Bibliographie, die auch den Bereich der Literaturverfilmung mit einschließt), und K. Hickethier, Film- und Fernsehanalyse in der Theaterwissenschaft, S. 41–63 (bietet eine ebenso detaillierte wie grundlegende Dokumentation bisheriger Ansätze auf diesem Sektor einschließlich eines umfassenden Literaturverzeichnisses). L. Bauer, E. Ledig, M. Schaudig (Hrsg.), Strategien derFilmanalyse, München 1987 (= Münchner Beiträge zur Filmphilologie, Bd. 1); der Band zieht eine vorläufige Bilanz der Forschungsansätze, wie sie die von dem Literaturwissenschaftler Klaus Kanzog an der Ludwig-Maximilians-Universität München etablierte Filmphilologie seit ihrem zehnjährigen Bestehen erzielt hat.

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  5. Vgl. hierzu besonders K. Weill, Ausgewählte Schriften, hrsg. v. D. Drew, Frankfurt 1975, S. 181–185 (Kapitel Tonfilm, Opernfilm, Filmoper aus dem Jahre 1930); B. Baläzs, Der Film. Werden und Wesen einer neuen Kunst, Wien 61980 (11949), S. 259–262; S. Kracauer, Theorie des Films, Frankfurt a. M. 1964, S. 210–213; Z. Lissa, Ästhetik der Filmmusik, Berlin 1965, S. 327–338.

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  6. Vgl. Art. Fernsehoper, in: Riernann Musik Lexikon Sachteil, Mainz 121967, S. 280. Einen vorzüglich kommentierten Überblick über die reichhaltige Produktion auf diesem Sektor (von 1936–1970) vermittelt H. Bertz-Dostals Standardwerk Oper im Fernsehen, 2 Bde., Wien 1970/71. Analytische Studien und werkorientierte Untersuchungen fehlen jedoch auch in diesem Bereich.

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  7. Vgl. M. Brauneck, G. Schneilin (Hrsg.), Theaterlexikon, Hamburg 1986, Art. Fernsehen und Theater, S. 338–343; Art. Film und Theater, S. 348–351. Man bedenke, daß dieses sonst sehr breitgefächerte Nachschlagewerk das Stichwort,Oper’ — immerhin eine nicht ganz unbedeutende Theatergattung — nicht enthält!

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  8. Vgl. Buchers Enzyklopädie des Films, Bd. 2, hrsg. v. L.-A. Bawden, München und Luzern 21983, Art. Opernfilm, S. 569 f.

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  9. Im Sinne des von K. Lazarowicz beschriebenen Begriffs der triadischen Kollusion (Triadische Kollusion. Uber die Beziehungen zwischen Autor, Schauspieler und Zuschauer im Theater, in: Das Theater und sein Publikum. Veröffentlichungen des Instituts für Publikumsforschung Nr. 5, Wien 1977, S. 44–60.

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  10. Brooks Inszenierung existiert in drei identischen Film-Fassungen, die sich lediglich durch die unterschiedliche Besetzung voneinander abheben. Vgl. zum musikalischen Arrangement den Klavierauszug: M. Constant, J.-C. Carrière, P. Brook, La tragédie de Carmen. Adaption d’après Georges Bizet, Meilhac et Halévy, Prosper Mérimée, Paris 1982 (edition salabert).

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  11. Als erster Versuch gilt L. Czerny, Jenseits des Stromes, 1922; vgl. Buchers Enzyklopädie des Films, a. a. 0., S. 569, Sp. 2, sowie B. Baläzs, Der Film. Werden und Wesen einer neuen Kunst, a. a. 0., S. 259–262.

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  12. Vgl. die Zusammenstellung etwa bei Chr. Filius-Jehne (Hrsg.), Prosper Mérimées Novelle Carmen. Die Oper. Die Filme. Faszination des Flamenco, München 1984, S. 124 f.

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  13. Diesbezüglich unterscheiden sich Ansatz und Methode des vorliegenden Beitrags von den bisherigen Untersuchungen zur Visualisierungsproblematik von Musik im Fernsehen. H. Chr. Schmidt, der in seinem oben (Anmerkung 6) angeführten Beitrag auf das „Dilemma der Visualisierung von Musik im Fernsehen“ eingeht, exemplifiziert seine Frage anhand von konzertanten Soloauftritten. In einem Exkurs auf die Oper (S. 859) kommt er zu dem Schluß, daß der mit dem Transfer des Bühnenwerks an Originalschauplätze verbundene optische Realismus mit der musikalischen Stilisierung schärfer kollidiere, die durch das Medium erzeugte ästhetische Diskrepanz also tiefer sitze, als dies bei der Übertragung von Theateraufführungen der Fall sei. Verwiesen sei zu dieser Thematik auch auf die erst jüngst erschienenen Beiträge, ebenfalls von H. Chr. Schmidt, Das Fernsehen als moralische Anstalt? Überlegungen zum musikalischen Kunstwerk im Fernsehen, Teil 1, in: Neue Zeitschrift für Musik 2, 1988, S. 3–8, sowie von K.-E. Behne, Bilder zur Musik — Fesseln, Fragen oder Freiräume? Überlegungen zum musikalischen Kunstwerk im Fernsehen, Teil 2, in: Neue Zeitschrift für Musik 4, 1988, S. 12–17.

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  14. Vgl. zu dieser Problematik u. a. S. Steinbeck, Die Ouvertüre in der Zeit von Beethoven bis Wagner. Probleme und Lösungen, München 1973 (= Freiburger Schriften zur Musikwissenschaft, Bd. 3).

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  15. Vgl. zu diesem dramentechnischen Begriff etwa V. Klotz, Geschlossene und offene Form im Drama, München 1969, 91978, S. 30 ff.

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  16. Vgl. H. Daffner, Friedrich Nietzsches Randglossen zu Bizets Carmen, Regensburg, o. J. [1938], S. 24. Nietzsche sah in dieser Ouvertüre die unsentimentale, unpathetische und deshalb so echte Folie für Carrnens tragischen Tod. Nachdem Nietzsche in ein immer zwiespältigeres Verhältnis zu Richard Wagner geraten war (vgl. Der Fall Wagner, 1888), erblickte er in Bizets Carmen-Oper jene mediterrane, klare Heiterkeit, die er dem mythisch durchtränkten Pathos der Musik des Bayreuther Meisters widersprüchlich verstrickt absprach. Der Turiner Brief vom Mai 1888 geriet zur Lobeshymne auf Bizets ganz vom melodisch plastischen Einfall her empfundenen Kompositionskunst. Vieles davon, die „Trockenheit der Luft, die limpidezza in der Luft“, wie es heißt, die „afrikanische Heiterkeit“, die Tragik „Ohne Grimasse! Ohne Falschmünzerei!“ hat Rosi durch die Authentizität der sonnendurchfluteten Schauplätze, durch die spürbar flirrende Hitze und die extreme Helligkeit der Einstellungen, mithin durch die sinnliche Nähe des Films einzufangen gewußt, drastischer als dies aufgrund der stilisierend artifiziellen Distanz jeder Bühneninszenierung überhaupt möglich ist. Nietzsches fiebrig überzeichnetes Carmen-Bild scheint den krassen Realismus des filmischen Mediums in visionärer Sicht vorwegzunehmen.

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  17. Die Akt- und Bildeinteilung folgt wie alle anderen Angaben, die sich auf den Notentext beziehen, dem von F. Oeser besorgten Klavierauszug: Georges Bizet. Carmen. Kritische Neuausgabe nach den Quellen. Deutsche Übertragung der Originalfassung von Walter Felsenstein, Kassel 31976. Die Originalfassung mit gesprochenen Dialogen, die mit dieser Ausgabe erstmals zugänglich wurde, lag auch dem von Rosi benutzten Soundtrack (vgl. oben Anmerkung 32) zugrunde.

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  18. Vorzüglich beschrieben von S. Döhring, Szene in der Musik und Musik in der Szene. Zur Musikdramaturgie der italienischen und französischen Oper im 19. Jahrhundert, in: Musik und Bildung 9, 1980, S. 523–529, bes. S. 526 ff. Es handelt sich hierbei um den bislang einzigen analytisch fundierten Beitrag zur musikalischen Dramaturgie der Carmen-Oper überhaupt. Auf die thematische Konstellation sowie die Beziehungen zwischen Vorspiel und Duett-Finale geht Döhring allerdings nicht ein.

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  19. Rosi schildert also genau jene Phase des Kampfes, die auch am Schluß der Oper, wenn Carmen ermordet wird, erreicht ist. Wie die zeitliche Strukturierung des gesamten letzten Bildes der Oper zeigt, haben sich schon Bizet und seine Librettisten exakt an die bestehenden Stierkampfregeln gehalten. Stierkampfschilderungen, wie sie auch den Schöpfern der Oper vorgelegen haben mögen, finden sich etwa in den seinerzeit berühmten Reisebeschreibungen von Théophile Gautier (vgl. Reise in Andalusien, hrsg. u. ins Deutsche übertragen von U. C. A. Krebs, München 1981, S. 159–170). Unterschieden werden im allgemeinen vier Kampfabschnitte, die sich in der Carmen-Partitur (gemäß des angestrebten realistischen Konzepts) exakt verifizieren lassen: Nach dem feierlichen Einzug der Stierkämpfertruppe (Cuadrilla) wird der Stier zunächst vom Torero mit der Capa, dem grellfarbenen Mantel, gereizt. Danach wird das Tier von den berittenen Picadores durch Lanzenstiche in den Nacken geschwächt; in der nächsten Phase betreten die Banderillos die Arena, deren Aufgabe es ist, ihre mit Papierrosetten geschmückten Holzstäbe (Banderillas) in das Nacken-fettpolster des Tieres zu treiben. Erst danach kommt erneut der Torero (in dieser letzten Phase nennt man ihn Matador) in die Arena, um dem Stier, am Höhepunkt des Kampfes, den tödlichen Lanzenstoß zu versetzen.

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  20. Text und Übersetzung (auch der im folgenden zitierten Textstellen) entstammen: A. Csampai, D. Holland (Hrsg.), Georges Bizet. Carmen, Reinbek b. Hamburg 1984 (= rororo Opernbuch).

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  21. Vgl. zu den grundlegenden Funktionen von Musik im Vor- und Abspann des Films u. a. N. J. Schneider, Handbuch der Filmmusik. Musikdramaturgie im Neuen Deutschen Film, München 1986, S. 139–142.

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  22. Vgl. zur Frage der Couleur locale und der spezifischen kompositorischen Charakteristika des hier vorliegenden Gebirgs- und Räubermilieus H. Unverricht, Das Berg- und Gebirgsmilieu und seine musikalischen Stilmittel in der Oper des 19. Jahrhunderts, sowie A. A. Abert, Räuber und Räuber»nilieu in der Oper des 19. Jahrhunderts, beide Aufsätze in: H. Becker (Hrsg.), Die „Couleur locale“ in der Oper des 19. Jahrhunderts, Regensburg 1976, S. 99–119 u. S. 121–129.

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  23. Vgl. H. M. Eichenlaub, Carlos Saura. Ein Filmbuch, Freiburg i. Breisgau 1984, S. 17.

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Liebscher, J. (1993). Die Partitur als Drehbuch. In: Wagner, G. (eds) Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03485-4_10

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