Lessing über Streit und Toleranz als Faktoren des Vernunftfortschritts

Zusammenfassung

Lessing schloß 1772 einen Aufsatz mit der rhetorischen Frage: »O meine Freunde, warum sollten wir scharfsinniger als Leibniz, und menschenfreundlicher scheinen wollen, als Sokrates?«¹ In diesem Appell schwang auch Trauer. Denn die Frage beantwortete sich von selbst und war doch so begründet, daß sie emphatisch gestellt wurde. Sie ist — wer sollte das verkennen — bis heute gerechtfertigt und ließe sich ohne Verdrehung ihres Sinns in die Fassung bringen: O Freunde, warum sollten wir scharfsinniger und menschenfreundlicher scheinen wollen als Lessing? So formuliert, präsentiert sie dem Germanisten die Schwierigkeit, in der sich jeder Historiker vor den Großen aus der Vergangenheit befindet: Er weiß mehr als sie, hat neue Erfahrungen, übersieht weitere Zusammenhänge, kennt den Fortgang und manchmal auch das Ende der Geschichten, in die sie verwickelt waren, und ist doch der Kleinere. Wer sich also mit den Alten nicht nur in der stumpfsinnigen Absicht beschäftigt, zu zeigen, wie herrlich weit wir Neueren es gebracht haben, wer die großen geistigen Leistungen der Vergangenheit als Maßstäbe für die Gegenwart aufrechterhalten will, wird sich schon der Mühe unterziehen müssen, die Denkakte der besten Köpfe von einst in ihre ursprünglichen Zusammenhänge zurückzuverfolgen und aus ihnen heraus zu würdigen. Das wirft methodische Probleme auf. Man kann einen Kreis nicht durch eine Gerade bestimmen; und wie oft ist der Blick des Historikers darauf beschränkt, einen auffälligen oder ihn interessierenden Fixpunkt im Werk eines Autors mit dem eigenen Gesichtspunkt linear zu verbinden.