Zusammenfassung
Friedrich Schlegel hat das thematische Zentrum dieses Paradigmas des Bildungsromans getroffen, als er feststellte: „Nicht dieser oder jener Mensch sollte erzogen, sondern die Natur, die Bildung selbst sollte in mannigfachen Beispielen dargestellt und in einfache Grundsätze zusammengedrängt werden.“1 Die Forschung hat von jeher Schwierigkeiten gehabt, diesen hermeneutischen Hinweis in rechter Weise aufzugreifen.2 H. Reiss bedauerte zu Recht, daß es noch nicht geglückt sei, „in den Einzelheiten der individuellen Lebensläufe irgendwelche Gesetzlichkeiten und typische Veränderungen aufzuspüren“.3 Es wird daher nötig sein, die wichtigsten Werdegänge vergleichend zu verfolgen, um die determinierenden Prinzipien, die allgemeinen Kriterien des menschlichen Bildungsprozesses, wie er in den Lehrjahren erscheint, zu erschließen. Es wird dabei Goethes Hinweis zu beherzigen sein, daß „den anscheinenden Geringfügigkeiten des Wilhelm Meister […] immer etwas Höheres zum Grunde“ liege und man sich deshalb nicht begnügen dürfe, „das gezeichnete Leben als Leben“ zu betrachten.4 Freilich lassen sich die einzelnen Lebensläufe in ihrer individuellen Vielschichtigkeit nur sehr bedingt miteinander vergleichen. Die in ihnen sich manifestierende Bildungsidee ist als irrationales, geheimnisvolles Lebensprinzip durch den analytischen Zugriff nicht voll zu erschließen. Goethe wußte genau, warum er in seinem Roman trotz Schillers Drängen begrifflich verkürzende „Resultate“ weitgehend vermied.5
Preview
Unable to display preview. Download preview PDF.
Anmerkungen
W. Kayser, Das sprachliche Kunstwerk, Bern 1948, S. 365;
K. Schlechta, Goethes Wilhelm Meister, Frankfurt a.M. 1953, S. 11 ff.
Vgl. etwa Jürgen Jacobs, Wilhelm Meister und seine Brüder, München 1972, S. 79 f.
Die Bedeutung des morphologischen Gestaltbegriffs für Goethes Bildungslehre ist seit L. Kiehns gründlicher Studie bekannt: Goethes Begriff der Bildung, Hamburg 1932, S. 120, 163 f., 179 passim.
Goethes Brief an F. S. Voigt vom 20.12.1806. — Auch Ivar Sagmo interpretiert Goethes Bildungsbegriff als „Gestaltwerdung“ im übertragenen morphologischen Sinn. Bildungsroman und Geschichtsphilosophie. I. Sagmo, Eine Studie zu Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre, Bonn 1982, S. 81 ff. Leider ist dem Verfasser mein Aufsatz entgangen: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Gestaltbegriff und Werkstruktur, in: Goethe-Jahrbuch, Bd. 92, Weimar 1975, S. 140–164.
Wilhelm Meisters Lehrjahre
Ulrich Schödlbauer sieht die für Wilhelms Entwicklung konstitutive Vorgangsfigur von Diastole und Systole nur in den beiden letzten Büchern verwirklicht: U. Schödlbauer, Kunsterfahrung als Weltverstehen. Die ästhetische Form von „Wilhelm Meisters Lehrjahre“, Heidelberg 1984, S. 157.
Vgl. dazu Klaus-Dieter Sorg, Gebrochene Teleologie, Heidelberg 1983, S. 83 ff.
Vgl. H. E. Hass, Wilhelm Meisters Lehrjahre; in: Benno von Wiese (Hrsg.), Der deutsche Roman, Bd. 1, Düsseldorf 1963, S. 140 f.
Rights and permissions
Copyright information
© 1992 Springer-Verlag GmbH Deutschland
About this chapter
Cite this chapter
Mayer, G. (1992). Johann W. v. Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. In: Der deutsche Bildungsroman. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03438-0_3
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-03438-0_3
Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart
Print ISBN: 978-3-476-00866-4
Online ISBN: 978-3-476-03438-0
eBook Packages: J.B. Metzler Humanities (German Language)