Zusammenfassung
Seit der Entstehung der modernen Bildungsidee entwickelte sich eine größere Anzahl von Bildungstheorien, die deren anfängliche relative Einheitlichkeit aufgelöst haben, so daß deren Inhalte heute mehr denn je umstritten sind. Die vorwiegend ästhetisch bestimmte Bildungskonzeption der Goethezeit ist heute durch die berechtigte Forderung nach Einbeziehung politisch-gesellschaftlicher und technisch-wirtschaftlicher Inhalte radikal in Frage gestellt. Kann ein solch vieldeutiger, fragwürdiger Bildungsbegriff für die Beschreibung einer Romanart tauglich sein? Zuerst gilt es zu bedenken, daß dieser Terminus von manchen Autoren nach wie vor als unentbehrlich, weil nicht ersetzbar, betrachtet wird. Der Prozeß der Selbstbildung des einzelnen vollzieht sich überall dort, wo die kritische Auseinandersetzung mit dem historischen Erbe einer Gesellschaftskultur gesucht wird. Indem deren Gesamtwissen der Reflexion unterzogen und, wenn auch in modifizierter Form, tradiert wird, gewinnt sie an innerer Stabilität. Bildung in diesem Sinn kann die Emanzipation des einzelnen ermöglichen, ohne dessen notwendigen sozialen Bezug zu beeinträchtigen. So begriff der „Deutsche Ausschuß für das Erziehungs- und Bildungswesen“ den Bildungsprozeß als prinzipiell unabschließbar und wagte einen bewußt pragmatischen Definitionsversuch: „Gebildet im Sinne der Erwachsenenbildung wird jeder, der in der ständigen Bemühung lebt, sich selbst, die Gesellschaft und die Welt zu verstehen und diesem Verständnis gemäß zu handeln.“2 Angesichts der ideologischen Erstarrung überlieferter Bildungskonzeptionen vermeidet diese Definition vorgegebene Normen und Werte; sie stellt den theoretischen Entwurf und die praktische Verwirklichung von Bildung allein der subjektiven Kompetenz des Individuums anheim.
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Anmerkungen
Vgl. Josef Speck/Gerhard Wehle (Hrsg.), Handbuch pädagogischer Grundbegriffe, Bd. 1, München 1970, S. 158. — Aufschlußreich auch die zahlreichen Neubildungen: von der Bildungspolitik über den Bildungsnotstand und die Bildungskatastrophe bis zur Bildungsreform, welche die Bildungsschranken überwinden und neue Bildungschancen eröffnen sollte. Auch Alexander Mitscherlich hat sich aus psychologischer Perspektive um eine begriffliche Klärung bemüht, indem er zwischen „Sachbildung“, „Sozialbildung“ und der „Bildung der Affektäußerungen“ unterschied. (A. Mitscherlich, Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft, München 1963, S. 32.)
Erik H. Erikson, Jugend und Krise, München 1988, S. 153. An anderer Stelle definiert Erikson diese „Ganzheit“ (wholeness) als ein „Zusammentreten von […] Teilen […], die zu fruchtbarer Verbindung und Organisation gelangen“. (E. H. Erikson, Identität und Lebenszyklus, Frankfurt a.M. 1973, S. 168, Anm. 8.)
Vgl. Günther Buck, Rückwege aus der Entfremdung, Paderborn/München 1984, S. 151.
Vgl. Jürgen Habermas, Moralentwicklung und Ich-Identität; J. Habermas, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Frankfurt a.M. 1976, S. 67 ff. — Auch Alexander Mitscherlich koppelt sein Bildungskonzept mit dem Identitätsbegriff; A. Mitscherlich, Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft, a. a. O., S. 115. — Ähnlich Lothar Krappmann, der für ein „pragmatisches Identitätskonzept“ eintritt, das die individualpsychologischen und soziologischen Aspekte der Bildungsproblematik in sich vereinigen soll: L. Krappmann, Soziologische Dimensionen der Identität, Stuttgart 1969, S. 208 ff.
Vgl. G. Kerschensteiner und E. Spranger, Briefwechsel 1912–1931, hg. v. L. Englert, München 1966, S. 62 f.
So erklärt etwa J. Habermas: „Nur der Begriff einer Ich-Identität, die zugleich Freiheit und Individuierung des einzelnen in komplexen Rollensystemen sichert, kann heute eine zustimmungsfähige Orientierung für Bildungsprozesse angebea J. Habermas/D. Henrich, Zwei Reden aus Anlaß der Verleihung des Hegel-Preises, Frankfurt a.M. 1974, S. 31 f.
Reinhart Koselleck, Zur anthropologischen und semantischen Struktur der Bildung; in: R. Koselleck (Hrsg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Teil 2, Stuttgart 1990, S. 12, 23 f., 34. Sicherlich impliziert Bildung stets die Grundlinien eines Welt- und Menschenbildes. Wenn der Verf. allerdings die „Religiosität“ (23 f.) zu den „allgemeinen Grundzügen der Bildung“ zählt, so wird er beispielsweise dem Leitbild der sozialistischen Persönlichkeit nicht gerecht, das keine Abhängigkeit von einer absoluten Macht anerkennt.
Um den verschwommenen Begriff des Bildungsromans zu vermeiden, schlägt Norbert Ratz die Bezeichnung „Identitätsroman“ vor, dessen Begriff aber mehr als die hier beschriebene Romanart umfaßt, zumindest noch den oben erwähnten Romantypus der Identitätskrise: N. Ratz, Der Identitätsroman, Tübingen 1988, S. 145. Ähnliches gilt für den Begriff „Individuairoman“, auf den sich Ratz bezieht (S. 49), sowie für den Terminus „Humanitätsroman“, den Michael Beddow vorschlägt; M. Beddow, The Fiction of Humanity, Cambridge 1982, p. 289. Am nächsten kommt meiner Definition der von Hans R. Vaget vorgeschlagene Begriff des „Sozialisationsromans“ (Ratz, a.a.O., S. 3).
Vgl. H.R. Jauß, Theorie der Gattungen und Literatur des Mittelalters; in: H.R. Jauß/E. Köhler (Hrsg.), Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters, Bd. 1, Heidelberg 1973, S. 113.
Vgl. Klaus W. Hempfer, Gattungstheorie, München 1973, S. 142, 146.
Das gilt auch für K. W. Hempfers Versuch einer , »Neufundierung der Gattungskonzepte […] auf kommunikativer Grundlage“ (a.a. O., S. 222 ff.). Ein interessanter methodischer Ansatz findet sich bei Wilhelm Voßkamp: Der Bildungsroman in Deutschland und die Frühgeschichte seiner Rezeption in England; in: J. Kocka (Hrsg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. 3, München 1988, S. 257–272; ders., Der Büdungsroman als deutsche Utopie?; in: DAAD, Dokumentationen und Materialien, Bonn 1989, S. 117–129.
Vgl. Hartmut Steinecke, Romanpoetik von Goethe bis Thomas Mann, München 1987, S. 75.
Jürgen Jacobs hat zwar wertvolle Einsichten in die Struktur des Bildungsromans gewonnen (271 ff.), aber die Studie bestätigt im ganzen doch seinen grundsätzlichen Zweifel, ob „eine im Formalen ansetzende Gattungsbestimmung befriedigende Resultate verspricht“ (16). (J. Jacobs, Wilhelm Meister und seine Brüder, München 1972.) Zu positiveren Ansätzen gelangen J. Jacobs und M. Krause in: Der deutsche Bildungsroman. Gattungsgeschichte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, München 1989, S. 37 f. Rolf Selbmann versucht, ausgehend von der „Romanstruktur einer einsträngig erzählten Heldengeschichte“ (39), vor allem die Funktionen der Erzähler- und der Leserfigur in der Romanart zu klären. (R. Selbmann, Der deutsche Bildungsroman, Stuttgart 1984.) Martin Swales und Michael Beddow behandeln zwar in eingehender Weise auch Probleme der Gattungsstruktur, ihr eigentliches Interesse richtet sich jedoch auf die ausführliche Interpretation einiger weniger Werke. (M. Swales, The German Bildungsroman from Wieland to Hesse, Princeton 1978; M. Beddow, The Fiction of Humanity, Studies in the Bildungsroman from Wieland to Thomas Mann, Cambridge 1982.) Einen nach wie vor lesenswerten, sehr detaillierten Forschungsbericht zur Romanart legte Lothar Köhn vor. Sein Referat enthält darüberhinaus eine Fülle wegweisender Anregungen, beruhend auf der grundsätzlichen Einstufung des Bildungsromans „als heuristisch verstandener Kategorie“ (611). So fordert Köhn zu Recht, es gelte ,4nduktiv-empirisch“ eine „variable Bildungsroman-Struktur“ zu entwickeln (445). (L. Köhn, Entwicklungs- und Bildungsroman, ein Forschungsbericht; DVjs, 42, 1968, S. 427–473, 590–632.)
Vgl. Fritz Martini, Der Bildungsroman. Zur Geschichte des Wortes und der Theorie; DVjs, 35, 1961, S. 44–63. Zitiert wird aus Morgensterns 1820 erschienenem Aufsatz „Über das Wesen des Bildungsromans“ ; in: E. Lämmert u. a. (Hrsg.), Romantheorie. Dokumentation ihrer Geschichte in Deutschland 1620–1880, Köln/Berlin 1971.
Der Ich-Roman; Fr. Spielhagen, Beiträge zur Theorie und Technik des Romans (1883), Faksimiledruck, hg. v. Hellmuth Himmel, Göttingen 1967, S. 202 (Anm.).
W. Dilthey, Das Erlebnis und die Dichtung, 9. Aufl., Leipzig/Berlin 1924, S. 393 f.
W. Dilthey, Das Leben Schleiermachers, Leipzig/Berlin 1870, S. XI; Das Erlebnis und die Dichtung, a.a.O., S. 394.
Melitta Gerhard, Der deutsche Entwicklungsroman bis zu Goethes „Wilhelm Meister“, Halle 1926, S. 162.
Ernst L. Stahl, Die religiöse und die humanitätsphilosophische Bildungsidee und die Entstehung des deutschen Bildungsromans im 18. Jahrhundert, Bern 1934, S. 135.
Hans H. Borcherdt, Artikel „ildungsroman“; in: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, 2. Aufl., Berlin 1958, Band 1, S. 175–178.
Rolf Selbmann, Der deutsche Bildungsroman, Stuttgart 1984 (Sammlung Metzler M 214), S. 38. — Esther Kleinbord Labovitz (The Myth of the Heroine. The female Bildungsroman in the Twentieth Century, New York/Bern/Frankfurt a.M. 1986) fuhrt keine Strukturuntersuchung der Romanart durch; sie beschränkt sich auf deren „thematic and cultural implications“ (4), die sie im Hinblick auf die Rolle des weiblichen Helden im 20. Jahrhundert interpretiert. Dagegen zeigt Franco Morettis anregende Studie Ansätze zu struktureller Interpretation (The Way of the World. The Bildungsroman in European Culture, London 1987). Allerdings faßt er den Terminus des Bildungsromans so weit, daß dieser nicht nur die wesentlichen englischen Romane des 19. Jahrhunderts abdeckt, sondern auch die völlig andersartigen Werke von Stendhal, Balzac und Flaubert umfaßt. Außerdem erklärt Moretti die Romanart mit dem Ende des 19. Jahrhunderts für abgeschlossen (S. 228).
Eine differenzierte Darstellung erübrigt sich, da dieser Problemkreis durch die Forschung weitgehend geklärt ist. Vgl. Lothar Köhn, Entwicklungs- und Bildungsroman. Ein Forschungsbericht; DVjs, Bd. 42, 1968, S. 455 ff. Ferner G. Dohmen, Die Entstehung des deutschen Bildungsbegriffs und die Entwicklung seines Verhältnisses zur Schule, Weinheim 1964.
W. v. Humboldt, Grenzen des Staates, hg. v. H. Schumann, Frankfurt a.M. 1947, S. 28 f.
Diese Korruptibilität des Individuums wurde auch schon in zahlreichen Romanen der Aufklärung als eindringliche Warnung thematisiert Vgl. Georg Stanitzek, Bildung und Roman als Momente bürgerlicher Kultur. Zur Frühgeschichte des deutschen „Bildungsromans“; DVjs, Bd. 62, 1988, S. 431 ff.
Vgl. die Gesamtinterpretation des Romans von G. J. Martin ten Wolthuis; Zs. für deutsche Philologie, Bd. 87, Heft 1, 1968, S. 46–85.
Etwa im Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, 2. Aufl., Bd. 1, Berlin 1958, S. 175 f., oder bei B. Romberg, Studies in the Narrative Technique of the First-Person Novel, Stockholm 1962.
Loci praecipui theologici. Definitiones; in: Melanchthons Werke in Auswahl, hg. v. R. Stupperich, Gütersloh 1953, Bd. 2, Teil 2, S. 782.
J.G. Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Darmstadt 1966, S. 552. In dieselbe Richtung zielt Herders dezidiertes Wort: „Vom mittlem Stande geht bekanntermaaßen die geistige Thätigkeit und Cultur aus; auf und nieder soll sie wirken, damit das Ganze belebt werde.“ (Sämtliche Werke, hg. v. B. Suphan, Bd. 24, S. 174.)
Friedrich Schlegel, Über Goethes Meister; in: Kritische Schriften, hg. v. W. Rasch, Darmstadt 1964, S. 469.
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Mayer, G. (1992). Einführung. In: Der deutsche Bildungsroman. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03438-0_1
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