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Von der Genese des Psychologischen Subjekts aus dem Scheitern des Moralischen Aufsteigers: Die Geschichte des Anton Reiser

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Politische Kritik, psychologische Hermeneutik, ästhetischer Blick
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Zusammenfassung

Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser. Ein psychologischer Roman, von 1785 bis 1790 in vier Teilen erschienen, gilt schon seit geraumer Zeit nicht mehr als bloßes Randphänomen der Literaturgeschichte. Aber gerade an der breiteren Befassung mit dem Roman zeigt sich, daß er für heutige Interpreten drei Fallstricke bereithält, denen, so scheint es, nicht ohne weiteres zu entgehen ist. Sie seien zunächst an bezeichnenden Beispielen dargelegt.

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Anmerkungen

  1. Mit der Auffassung, daß das ’Psychologische’ am Anton Reiser ein bloßes Etikett sei, ist Günter Niggl allein geblieben. Günter Niggl: Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert, Stuttgart 1977, S. 71.

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  2. Dieser Versuchung entgehen nur wenige psychologisch angelegte Studien, so diejenige von Werner Leibbrand: “Karl Philipp Moritz und die Erfahrungsseelenkunde”, Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und ihre Grenzgebiete 118 (1941), 392–414. Sie versucht, ihren Gegenstand als historischen zu fassen, und kommt dabei zu ähnlichen Resultaten wie die Untersuchung Robert Minders (a.a.O.).

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  3. Hugo Eybisch: Anton Reiser. Untersuchungen zur Lebensgeschichte von K. Ph. Moritz und zur Kritik seiner Autobiographie, Leipzig 1909.

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  4. Boulby unterscheidet konsequent zwischen ’narrated’ und ’narrating self’. Mark Boulby: Karl Philipp Moritz. At the Fringe of Genius, Toronto University Press 1979.

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  5. Gertrud Wagner (Die Entwicklung des psychologischen Romans von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum Ausgang der Romantik, Diss. Masch. Wien 1965, S. 153 passim),

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  6. meist aber mit Verweis auf die augustinische bzw. mystische christliche Tradition. Vgl. Alois M. Haas: “Christliche Aspekte des ’Gnoti seauton’. Selbsterkenntnis und Mystik”, Zs. f. dt. Altertum u. dt. Lit. 110 (1981), 71–96.

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  7. Sie findet sich auch in geistesgeschichtlichen Arbeiten, so in Eckehard Catholys Untersuchung Karl Philipp Moritz und die Ursprünge der deutschen Theaterleidenschaft, Tübingen 1962.

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  8. Joachim Dyck: “Zur Psychoanalyse der Melancholie: Karl Philipp Moritz’ ’Anton Reiser’“, in: Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses, Bd. 6, Tübingen 1986, S. 177–182;

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  9. Peter Dettmering: “Eine ’Selbstanalyse’ um 1800. Zu Karl Philipp Moritz’ ’Anton Reiser’“, in: J. Hörisch/G. Tholen (Hrsg.): Eingebildete Texte, München 1985, S. 65–78.

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  10. Es gibt aber auch Beispiele, die zeigen, daß gerade psychologisch angelegte Arbeiten keineswegs in eine der angegebenen ’psychologischen Fallen’ der Reiser-Interpretation gehen müssen, so Wolf Wucherpfennig: “Versuch über einen aufgeklärten Melancholiker: zum Anton Reiser von Karl Philipp Moritz”, in: Freiburger literaturpsychologische Gespräche 1, hrsg. v. Johannes Cremerius, Wolfram Mauser, Carl Pietzcker, Frederick Wyatt, Frankfurt/M./Bern 1981 (= Europäische Hochschulschriften: Reihe 1: Dt. Sprache und Literatur Bd. 391), S. 167–196.

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  11. Bisanz beruft sich dabei auf Schrimpf, der den Anton Reiser eine “diagnostische Pathographie” genannt hat. Diese Berufung beruht wohl auf einem Mißverständnis, da Schrimpf den Unterschied zwischen Krankheitsbild und dessen diagnostischer Erläuterung, den Bisanz auflöst, gerade namhaft macht und damit festhält. Bisanz, a.a.O., S. 113. Hans Joachim Schrimpf: Nachwort zu: Karl Philipp Moritz: Die neue Cecilia. Faksimiledruck der Originalausgabe von 1794, Stuttgart 1962, S. 77–94, Zit. S. 85.

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  12. Josef Fürnkäs: Der Ursprung des psychologischen Romans, Stuttgart 1977, S. 28.

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  13. In seiner großangelegten geistesgeschichtlichen Studie The Great Chain of Being (Cambridge, Mass. 1936) zeigt Arthur O. Lovejoy, daß die neuplatonisch-mystische Weltordnungsidee, die mit der im Titel zitierten Metapher ausgedrückt ist, prägend in die Philosophie des 18. Jahrhunderts von Pope über Leibniz und Lessing bis zu Kant und Herder eingegangen ist. Dazu, wie weit das aufklärerische Denken und besonders Moritz’ Weltanschauung mit dieser Idee zu fassen ist, vgl. Thomas P. Saine: Die ästhetische Theodizee. Karl Philipp Moritz und die Philosophie des 18. Jahrhunderts, München 1971, bes. S. 52 ff.

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  14. Hans Adler: “Literatur und Sozialkritik. Versuch einer historischen Spezifikation des sozialen Romans”, ZfdPh 102 (1983), 500–521, Zit. S. 504.

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  15. Ausführlicher zu den Anfängen des sozialen Romans in 18. Jahrhundert Erich Edler: Die Anfänge des sozialen Romans und der sozialen Novelle in Deutschland, Frankfurt/M. 1977 (= Studien zur Philosophie und Literatur des 19. Jahrhunderts Bd. 34).

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  16. dort weitere Literaturangaben. Zu Moritz’ Essay über Salzmanns populär gewordene Elendsschilderungen, die durch eine philanthropische Romanhandlung nur notdürftig integriert werden, vgl. Peter Rau: Identitätserinnerung und ästhetische Rekonstruktion. Studien zum Werk von Karl Philipp Moritz, Frankfurt/M. 1983 (= Literatur und Kommunikation Bd. 1), S. 286 ff.

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  17. Gegen Salzmanns Kolportagen von Ungerechtigkeit, Unterdrückung und Elend, die um reformerische Attacken gegen den Genuß von Tabak und Alkohol ergänzt und durch eine Romanhandlung mit moralisch-didaktischem Schluß zusammengehalten werden, wendet Moritz ein, der Roman verharmlose das Elend in doppelter Weise. Zum einen bereite seine literarische Machart die Not, so kraß sie im einzelnen geschildert sei, im Ganzen gesehen kulinarisch auf, so daß das Publikum ihn, wie jeden anderen Roman, allzu leicht “mehr zum Zeitvertreibe lesen” könne. Zum zweiten bestreitet er, daß es möglich sei, durch die Summierung der Elendsschilderung überhaupt die adäquate Betroffenheit zu erzeugen, da das Elend schlechthin eine Abstraktion vom wirklichen, nur dem einzelnen und jedem einzelnen anders erfahrbaren Elend darstelle: “Im Ganzen genommen ist das Elend nirgends, als in dem Kopfe dessen, der ein Belieben daran findet, es zusammenzufassen — was einmal einzeln ist, bleibt ewig einzeln — du kannst jedesmal nur das Elend eines einzelnen Menschen, und nie das Elend aller Menschen zusammengenommen auf die Waage legen.” Diese Bemerkung, die die Überlegenheit der Einzelstudie über das moralische Armutspanorama postuliert, kann wohl als Hinweis für das Verständnis der entsprechenden Passagen des Anton Reiser aufgefaßt werden. Zitate aus: Karl Philipp Moritz: Werke in drei Bänden, hrsg. v. Horst Günther, Frankfurt/M. 1981, Bd. III, S. 211, 212.

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I. Zum Zusammenhang von Psychologie und Poetologie im Anton Reiser

  1. Klaus-Detlev Müller: Autobiographie und Roman. Studien zur literarischen Autobiographie der Goethezeit, Tübingen 1976, S. 150. Müllers Formulierung könnte sich auf die knappe Einleitung zum ersten Teil des Anton Reiser berufen, wo es heißt: “Dieser psychologische Roman könnte auch allenfalls eine Biographie genannt werden, weil die Beobachtungen größtenteils aus dem wirklichen Leben genommen sind. — Wer den Lauf der menschlichen Dinge kennt und weiß, wie dasjenige oft im Fortgange des Lebens sehr wichtig werden kann, was anfänglich klein und unbedeutend schien, der wird sich an die anscheinende Geringfügigkeit mancher Umstände, die hier erzählt werden, nicht stoßen.” Ich zitiere nach folgender, auf der 1785–1790 in Berlin erschienenen Originalausgabe des Romans beruhenden Ausgabe: Karl Philipp Moritz: Anton Reiser. Ein psychologischer Roman, mit Textvarianten, Erläuterungen und einem Nachwort herausgegeben von Wolfgang Martens, Stuttgart 1972 (= RUB 4813). Sie kann eine kritische Ausgabe nicht ersetzen, bietet aber eine hinreichend zuverlässige und vor allem leicht zugängliche Textgrundlage. Zitate aus dem Roman wie aus den von Martens abgedruckten Textvarianten werden in () durch Angabe der Seitenzahl nachgewiesen. Zit. S. 6. Zu den Unterschieden zwischen den Vorabdrucken im Magazin und den entsprechenden Passagen im Roman vgl. Saine: Theodizee, a.a.O., S. 95 f. Die Streichungen, die Moritz für die Romanfassung vornahm, sind darauf gerichtet, der Erzählung einen allgemeineren, den persönlichen Lebensbericht transzendierenden Charakter zu verleihen.

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  2. Jürgen Peters: Die Romane von K. Ph. Moritz und deren mutmaßliche Leser, Diss. Hannover 1969, S. 24. Dieses analytische Moment der Erzählung hebt, wie auch Fürnkäs, Bezold hervor, wenn er die literarische Darbietung eine “Form wissenschaftlichen Erzählens” nennt und sie als “Moritzens Probe des erfahrungsseelenkundlichen Ansatzes” apostrophiert (a.a.O., S. 176).

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  3. Paul Peterken: Gesellschaftliche und fiktionale Identität. Eine Studie zu Theodor Gottlieb von Hippels Roman Lebensläufe nach aufsteigender Linie nebst Beilagen A, B, C’, Stuttgart 1981. Peterken zeigt an vielen Beispielen, daß “der Reflexionsgehalt des Romans aus dem Kontext des Handlungsgeschehens herausgelöst” wird (S. 119).

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  4. So auch Thomas Verweyen: Apothegma und Scherzrede, Bad Homburg 1970, S. 155.

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  5. Christian Heinrich Spieß: Biographien der Wahnsinnigen, ausgew., hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Wolfgang Promies, Darmstadt/Neuwied 1976 (= Slg. Luchterhand 211).

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  6. Zu Spieß’ Gespenstergeschichten vgl. Otto Rommel: “Rationalistische Dämonie. Die Geister-Romane des ausgehenden 18. Jahrhunderts”, DVjs 17 (1939), 183–220. Rommel analysiert die Romane von Spieß und Josef Alois Gleich als rationalistische Erlösungsromane, die sich des Abenteuerlichen und Wunderbaren als eines Kostüms bedienen.

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  7. “Vielfach werden psychologische Mechanismen auch dadurch verdeutlicht, daß die nachträgliche Interpretation in die Schilderung selbst einbezogen wird, so daß dasjenige, was in Wahrheit durch den Erzähler bewußt gemacht ist, schon als Bewußtseinsvorgang des Helden erscheint.” Klaus-Detlev Müller: Nachwort zu: Karl Philipp Moritz: Anton Reiser. Ein psychologischer Roman, hrsg. und mit einem Nachwort versehen von K.-D. Müller, München 1971, S. 369.

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  8. Hans Joachim Schrimpf: “Anton Reiser”, in: Benno v. Wiese (Hrsg.): Der deutsche Roman vom Barock bis zur Gegenwart. Struktur und Geschichte, Bd. 1, Düsseldorf 1963, S. 95–131, bes. S. 99–102.

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  9. zur Gattung der Tagebuchliteratur in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vgl. Karl-Heinz Bohrer: Der romantische Brief, München 1987, S. 28 f.

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  10. Darauf, die neuen psychologische Maßstäbe explizit durch einen autoritativen Erzähler zu setzen, kann Moritz’ Roman noch nicht verzichten: Erst Schnitzler und Joyce wagen eine Erzählform, in der psychologisches Material gerade durch seine scheinbare Ungeordnetheit für sich spricht. Rolf Selbmann hat darauf aufmerksam gemacht, daß in der analytischen Zergliederung, die der kommentierende Erzähler vornimmt, ein gewisser Verstoß gegen Blanckenburgs Harmonieforderung liegt. Rolf Selbmann: Der deutsche Bildungsroman, Stuttgart 1984 (= Slg. Metzler M 214), S. 58.

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  11. Vgl. Ralph-Rainer Wuthenow: Das erinnerte Ich. Europäische Autobiographie und Selbstdarstellung im 18. Jahrhundert, München 1974, S. 111.

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II. Das Psychogramm Anton Reisers

  1. Wie Moritz zeichnet Rousseau mit wenigen deutlichen Zügen die gesellschaftliche Position und den Charakter der Eltern, bevor er auf die ersten bewußten Erfahrungen des biographischen Ich zu sprechen kommt. Schon wenige Seiten später bekennt das Rousseausche Ich: “Ich habe den ersten und peinlichsten Schritt in das dunkle und schmutzige Labyrinth meiner Bekenntnisse getan.” An diesem Punkt der Darstellung sind die wichtigsten Züge des moralischen und psychologischen Charakters der Figur bereits fixiert, und zwar dank ausgiebiger Anwendung der Kategorie der Prägung. Bis Anton Reiser einen ähnlichen Grad der Fixierung erreicht, vergeht die Hälfte der im Roman geschilderten Lebenszeit. Jean Jacques Rousseau: Die Bekenntnisse, vollständige Ausgabe, übersetzt von Alfred Semerau (durchgesehen von Dietrich Leube), mit einem Nachwort und Anmerkungen von Christoph Kunze, München 1981, Zit. S. 21. Beispielhafte Anwendungen der Prägungs-Kategorie, um psychologische Fixierungen zu erläutern, erfolgen auf S. 12, 13, 19, 24. Die Leichtigkeit, mit der diese Kategorie zur Anwendung kommen kann, hängt mit dem Subjektivismus von Rousseaus Erzählperspektive zusammen: Mehr als die persönliche Beteuerung, von der jeweils gemachten Erfahrung nicht mehr loskommen zu können, ist in dieser Perspektive nicht erforderlich, um die Prägung zumindest vorläufig glaubwürdig zu machen.

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  2. Vgl. Bernd Neumann: Identität und Rollenzwang. Zur Theorie der Autobiographie, Frankfurt/M. 1970, S. 128 f. Reisers Schwanken bildet das Substrat des Gegensatzpaares von “Enge” und “Weite”, das seit Minder zum Topos der Moritz-Forschung geworden ist;

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  3. vgl. Schrimpf: Moritz: Anton Reiser, a.a.O., S. 99, und Norbert Ratz: Der Identitätsroman. Eine Strukturanalyse, Tübingen 1988 (= Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Bd. 44), wo dieses Gegensatzpaar “Einschränkung” und “Ausdehnung” heißt (S. 52 passim);

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  4. so auch bei Josef Grolimund: Das Menschenbild in den autobiographischen Schriften Karl Philipp Moritz’, Zürich 1967, S. 61. Es begründet auch die Anwendung des modernen tiefenpsychologischen Terminus der Regression auf Reiser, so etwa bei Ratz S. 53 passim.

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  5. Ruth Ghisler: Gesellschaft und Gottesstaat Studien zum ’Anton Reiser’, Winterthur 1955;

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  6. Hans-Ulrich Schnuchel: “Die Behandlung bürgerlicher Problematik in der Romanen von Karl Philipp Moritz”, in: Festschr. f. W. Vulpius, Weimar 1957, S. 85–99;

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  7. Paul Frank Proskauer: The Phenomenon of Alienation in the Work of Karl Philipp Moritz, Wilhelm Heinrich Wackenroder, and in ’Nachtwachen’ of Bonaventura, Diss. Columbia Univ. 1966;

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  8. Klaus Reimers: Die Resignation in die Kunst. Studien zur Ästhetik von Karl Philipp Moritz, Diss. Berlin 1970;

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  9. Mark Boulby verweist auf die wichtige Rolle, die dem Zufall im Roman zukommt, und hält diese für eine Relativierung der Gesellschaftskritik. Dagegen zeigt Wolf Wucherpfennig, daß der Zufall jeweils integraler Bestandteil der Gesellschaftskritik ist. Mark Boulby: “Anton Reiser and the concept of the novel”, Lessing Yearbook 4 (1972), 183–196;

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  10. keine Selbstverständlichkeit zumindest in den unteren Ständen. Der Terminus “Interesse” erfaßt m.E. besser den angegebenen Sachverhalt als die bei Haas auf die nämliche Konstellation angewandte Kategorie der “Verantwortung” (a.a.O., S. 72 passim). Hartmut Neuendorf: Der Begriff des Interesses. Eine Studie zu den Gesellschaftstheorien von Hobbes, Smith und Marx, Frankfurt/M. 1973 (= es 608), S. 10–31.

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  11. Sehr informativ für die hier angesprochenen Zusammenhänge ist immer noch die umfassend angelegte Untersuchung von Friedrich Paulsen: Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart, 2 Bde., 3. erw. Aufl., hrsg. v. Rudolf Lehmann, Berlin/Leipzig 1921, unveränderter Nachdr. Berlin 1965. Sie berücksichtigt nicht nur die Theorie, sondern auch die Praxis des Unterrichts, und zwar nicht mudes “gelehrten”. Zur schulischen Auslese mittels schulspezifisch modifizierter moralisch-gesellschaftlicher Anforderungen s.

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  12. Walter Hornstein: Vom ’jungen Herrn’ zum ’hoffnungsvollen Jüngling’. Wandlungen des Jugendlebens im 18. Jahrhundert, Heidelberg 1965 (= Anthropologie und Erziehung 14).

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  13. Hier hegt die Grundlage aller vom Erzähler eingebrachten pädagogischen Reformvorschläge, die darauf zielen, durch Erziehung der Erzieher diese in die Lage zu versetzen, die Fähigkeiten ihrer Zöglinge zutreffend zu ermitteln und der Anforderung gerecht zu werden, daß sie die Fähigkeiten, die sie ermitteln, zugleich erst herauszubilden haben. Auf diese Vorschläge ist im dritten Teil der Untersuchung des Reiser noch näher einzugehen. Die Mehrzahl der zeitgenössischen Pädagogen reagierte auf den Umstand, daß Bildung zwar das einzige individuelle Aufstiegsmittel war, aber nur wenigen einzelnen gewährt wurde, durchaus anders als Moritz, nämlich mit einem Bildungsrealismus, der die als notwendig erachtete Bildung aller strikt auf die Herausbildung der jeweils geforderten Brauchbarkeit beschränkte. Diese Zielsetzung der “Bildungsrealisten” dokumentiert ausführlich Helmut König: Zur Geschichte der Nationalerziehung in Deutschland im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, Berlin (DDR) 1960 (= Monumenta Paedagogica, hrsg. v. der Kommission für deutsche Erziehungsund Schulgeschichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin).

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  14. Nicht diese Tendenz ist das historische Novum, sondern die praktische Bedeutung, die nur ständeübergreifend zu besetzende Positionen inzwischen gewonnen haben. Schon 1655 fordert Veit Ludwig von Seckendorff in seiner Abhandlung Teutscher Fürsten-Stat den Ausbau des Bildungswesens, damit “man sich auch redlicher und geschickter Leute beym Regiment in allen Ständen” bedienen könne (zit. n. Fritz Blaich: Die Epoche des Merkantilismus, Wiesbaden 1973, S. 65).

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  15. Hans H. Gerth: Bürgerliche Intelligenz um 1800. Zur Soziologie des deutschen Frühliberalismus, mit einem Vorwort und einer ergänzenden Bibliographie hrsg. v. Ulrich Herrmann, Göttingen 1976 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Bd. 19), S. 74 passim;

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  16. Helmuth Kiesel/Paul Münch: Gesellschaft und Literatur im 18. Jahrhundert. Voraussetzungen und Entstehung des literarischen Markts in Deutschland, München 1977, Teil I: Politisch-gesellschaftliche Grundlagen, bes. S. 31 ff., 55 ff.

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  17. Ulrich Herrmann hat gezeigt, daß Schule und Unterricht im 18. Jahrhundert zunehmend — und durchgreifend mit dem preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 — zur “nationalen Angelegenheit” wird. Ulrich Herrmann: “Pädagogische Anthropologie und die ’Entdeckung’ des Kindes”, in: ders. (Hrsg.): ’Die Bildung des Bürgers’. Die Formierung der bürgerlichen Gesellschaft und die Gebildeten im 18. Jahrhundert, Weinheim/Basel 1982, S. 178–193, Zit. S. 182.

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  18. Unterstellt wäre dafür eine Klassengesellschaft mit vertikaler Mobilität der Individuen zwischen den Klassen bzw. Schichten, die ’Stände’ nicht mehr als erbliche Privilegierung, sondern nur noch als Berufsstände kennt. Vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1956, Erster Halbband, S. 223–227;

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  19. Wörterbuch der Soziologie, zweite, neubearb. und erw. Ausg. hrsg. v. Wilhelm Bernsdorf, Stuttgart 1969, Stichwörter “Klasse” (S. 540 ff.), “Klassengesellschaft” (S. 550 ff.), “Mobilität” (S. 709 ff.). Moritz’ pädagogischer Reformeifer unterstellt nicht nur ein anderes Bildungswesen, sondern mit diesem auch eine andere Gesellschaft. Das wird an einer Überlegung des Pädagogen Peter Villaume deutlich, der diese Implikationen 1785 explizit formuliert: “Wäre es nicht ein entschiedenes Recht des Staates, jedem seiner Bürger, nach gehöriger Prüfung seiner Fähigkeiten, seinen Stand anzuweisen? Die Einrichtung der alten Ägypter war noch nicht vollkommen, die einen jeden zu dem Stand seines Vaters verpflichtete. Nein, man müßte von Obrigkeits wegen die Jugend prüfen. Dem vorzüglichen Sohn des Handwerkers oder Tagelöhners müßte zu einem seinen Fähigkeiten gemäßen Stande verholfen, und der unfähige Sohn des Gelehrten zu einem Handwerk verwiesen werden. Doch das schmeckt nach Projektenmacherei.” Peter Villaume: “Ob und inwiefern bei der Erziehung die Vollkommenheit des einzelnen Menschen seiner Brauchbarkeit aufzuopfern sei”, in: Allgemeine Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesens, von einer Gesellschaft praktischer Erzieher, hrsg. v. Johann Heinrich Campe, 16 Bde. (1785–1792), repr. Nachdr. Vaduz/Liechtenstein 1979, Bd. 1, S. 596 f., Hervh. B.S.

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  20. das Spätmittelhochdeutsche betont den Gedanken des unsicheren Einsatzes bzw. Risikos, indem es dem Wort die heute noch geläufige Bedeutung ’Wehrbau im Felde’ verleiht. Das Französische entwickelt aus cheance das moderne Wort chance mit der positiven Interpretation der bloßen Möglichkeit des Gelingens als ’Vorteil, Aussicht’. In dieser Bedeutung wird das gleiche Wort zum zweiten Mal entlehnt, und zwar erst im 19. Jahrhundert — ein Hinweis darauf, daß die positive Sichtweise bloßer Gelegenheiten, einen Vorteil zu erringen, im 18. Jahrhundert noch keineswegs die allgemeine war. Vgl. Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 20. Aufl. bearb. v. Walther Mitzka, Berlin 1967, S. 635;

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  21. Hans Schulz: Deutsches Fremdwörterbuch, Bd. 1, Straßburg 1913, S. 107.

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  22. Die französische Spätaufklärung erklärt mehrheitlich — mit der prominentesten Ausnahme Voltaires — die Moral spätestens dort zur reinen Heuchelei, wo sie die Gestalt der Religion annimmt. Die religiösen Inhalte gelten ihr als in sich haltlose, bloß vorgeschobene Vorstellungen, durch welche schlechte Regierungen, die solche Herrschaftstechniken nötig haben, ihre Macht verteidigten und der Klerus seine privilegierte Position sicherte. Vgl. den ausführlichen Überblick des Herausgebers über die Religionskritik der französischen Materialisten in: Paul Thiry d’Holbach: Religionskritische Schriften, hrsg. v. Manfred Naumann, Berlin/Weimar o.J. Die Stärke der materialistischen Religionskritik liegt auf dem Felde der intellektuellen Auseinandersetzung mit den religiösen Dogmen, ihre eigentümliche Schwäche aber darin, daß sie die völlige Grundlosigkeit des als pure Heuchelei entlarvten Glaubens bei der Mehrzahl der Gläubigen annimmt. Vgl. Bernhard Spies: “Oskar Panizzas ’Liebeskonzil’ und die Geschichte der Religionssatire”, Literatur für Leser 1988, H.1, S. 52–64, bes. S. 53–55. Ansonsten gibt die gesellschaftliche Funktionalität des moralischen Bewußtseins den französischen Materialisten durchaus das wesentliche Argument für ihre ’immanente’ Begründung der Moralität ab. Auch hier bilden Diderots angeführte Romane eine Ausnahme. Erst Hegel nimmt wieder einen systematischen Zusammenhang von moralischem Bewußtsein und Heuchelei an, indem er diese aus jenem ableitet: freilich nicht, um das moralische Rechtsbewußtsein überhaupt zu verwerfen, sondern um es an die Vorschriften des staatlichen als des einzig “substanziellen” Rechts zu binden. Vgl. Rechtsphilosophie, § 140, Werke, a.a.O., Bd. 7, S. 265 ff.

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  23. Zu Herrmann und Ulrike vgl. Hans Peter Thurn: Der Roman der unaufgeklärten Gesellschaft. Untersuchungen zum Prosawerk Johann Karl Wezels, Stuttgart 1973 (= Studien zur Poetik und Geschichte der Literatur Bd. 30), S. 49 f.

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  24. Reinhard Breymaier: “Die Erbauungsstunde als Forum pietistischer Rhetorik”, in: Helmut Schanze (Hrsg.): Rhetorik. Beiträge zu ihrer Geschichte in Deutschland vom 16.–20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1974, S. 87–104.

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  25. Auf S. 197 findet sich eine Passage, mit der zitierten fast wortgleich und nur unwesentlich gekürzt, die mit der Bemerkung schließt: “Das war es ohngefähr, was ihm die Idee vom Theater schon damals so reizend machte.” Noch im vierten Teil der Erzählung wird der “falsche Kunsttrieb” (382) Reisers, der dort ausführlich und programmatisch thematisiert wird, wie folgt charakterisiert: “Um seinetwillen wollte er die Lebensszenen spielen — sie zogen ihn nur an, weil er sich selbst darin gefiel, nicht weil an ihrer treuen Darstellung ihm alles lag.” (413). Zur Theatromanie Reisers vgl. Catholy, der die Theaterleidenschaft des Protagonisten durchweg als Metaphysik des Autors bespricht: “Ja, schauspielerisches Erleben und Schaffen scheint Moritz darüber hinaus noch eine seiner individuellen Problematik besonders angemessene Verwirklichung dieses Drangs zu versprechen: Hier wird ihm die Synthese von All-Sehnen und Ich-Gefühl ermöglicht, um die es Moritz immer geht.” A.a.O., S. 113. Ganz anders Rudolf Lehmann, der im “Instinkt”, der Reiser “der Bühne zutreibt”, einen psychologisch abgeleiteten Antrieb sieht: “Anton Reiser und die Entstehung des Wilhelm Meister”, Jb.d.Goethe-Gesellschaft 3 (1916), 116–134, Zit. S. 123.

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III. Die Psychoanalyse des kommentierenden Erzählers

  1. Für sich genommen können Passagen wie die zitierte und analysierte als ein fast wörtliches Dementi von Lehren der Madame Guyon gelesen werden. Bei ihr heißt es: “Die Seele kann in diesem Stand die Tugend nicht als ’Tugend’ üben. Es sind hier die Tugenden, sozusagen, alltäglich und ganz natürlich geworden, so daß sie sie übt, wie sie sonstige Geschäfte verrichtet, ohne daran zu denken und ohne sich erst zu dem Zweck zusammenzunehmen. Eben darum sind diese Seelen im Auswendigen ganz gewöhnliche Menschen und haben nichts, was sie von den anderen unterscheidet, es wäre denn dies, daß sie überaus harmlos und einfältig sind und keinem zu nahe treten. Sie leben in der allertiefsten Ruhe und sorgen und bekümmern sich schlechthin um nichts in der Welt, es möge sein, was es wolle, — sie tragen in sich eine unermeßliche, jedoch nicht gefühlige Freude, die daraus entspringt, daß sie nichts fürchten, nichts verlangen, nichts wollen.” Madame de la Mothe Guyon: Die Ströme. Nach einer deutschen Ausgabe aus dem Jahre 1817, Mühlheim/Ruhr 1921, S. 78 f.

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  2. Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Berlin (DDR) 1969, Bd. 1, S. 378.

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  3. Es fällt leicht, zwischen den ästhetischen Auffassungen, die K. Ph. Moritz in seinen poetologischen Schriften entwickelt hat, und den ästhetischen Wertungen des Erzählers Parallelen zu ziehen. So kritisiert er Antons lyrische Versuche ob ihrer Vorliebe für unsinnliche metaphysische Themen (483 passim). Analog heißt es in der Abhandlung Über die bildende Nachahmung des Schönen vom “ganzen Zusammenhang der Dinge”, daß er “in seinem ganzen Umfange, weder in unsere Sinne fällt, noch von unserer Einbildungskraft umfaßt werden kann”. (Karl Philipp Moritz: Schriften zur Ästhetik und Poetik, hrsg. v. Hans-Joachim Schrimpf, Tübingen 1962, S. 71.) Wo aber die poetologische Schrift über die Inadäquatheit metaphysischer Prinzipien bzw. Systemgedanken zum Sinnlichen von Kunst bzw. künstlerischer Einbildungskraft argumentiert, vergleicht der Erzähler nur Antons Produkte mit vorausgesetzten Maßstäben, die er nicht diskutiert. Es scheint ihm nicht darauf anzukommen, ob der Leser seiner Kritik nur den psychologischen Hinweis auf die persönliche Unfähigkeit Antons entnimmt, Gedichte metaphysischen Inhalts zu verfassen, oder ob er auch noch den zugrundeliegenden allgemeinen ästhetischen Maßstab realisiert. Das prinzipielle Argument, daß die Kunst nicht zur instrumenteilen Behandlung tauge, macht er jedenfalls explizit genug. Zu den ästhetischen Schriften vgl. die systematischgründliche Arbeit von Egon Menz: Die Schrift Karl Philipp Moritzens ’Über die bildende Nachahmung des Schönen’, Göppingen 1968 (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik 4);

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  4. zu einem interessanten Nebenaspekt, vor allem im Rückblick auf Geliert vgl. Reinhard Nickisch: “Karl Philipp Moritz als Stiltheoretiker”, GRM N.F. 19 (1969), 262–269.

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  5. Bettina Hurreimann: Jugendliteratur und Bürgerlichkeit Soziale Erziehung in der Jugendliteratur der Aufklärung, Paderborn 1974;

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  6. Theodor Brüggemann/Hans Heino Ewers: Handbuch der Kinder- und Jugendbuchliteratur. Von 1750–1800, Stuttgart 1982.

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  7. So negativ, wie man aufgrund des Anton Reiser vermuten könnte, ist das Bild des künstlerischen Dilettanten bei Moritz gar nicht. Vgl. Hans Rudolf Vaget: “Das Bild des Dilettanten bei Moritz, Schiller und Goethe”, Jb. d. Freien Deutschen Hochstifts 1970, 1–31.

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  8. In diesem Sinn trifft auf den Anton Reiser zu, was Helmut Heißenbüttel über Rousseaus Confessions bemerkt: “Rousseau wollte, im Guten, wie im Bösen, zeigen, wer er war. Nicht als einmalige und unverwechselbare Person, sondern als der beispielhaft menschliche Mensch. Rousseaus Selbstbildnis war gegen das repräsentative Bild vom Menschen gerichtet, das gestuft war nach den Priviligien, die man hatte oder nicht hatte. Es sollte zeigen, daß es den Menschen gibt, der in allen Menschen steckt, im König so gut wie im Tagelöhner.” Dem wäre nur, wie der Auffassungsweise des analytischen Erzählers, hinzuzufügen, daß das Absehen von den “Privilegien”, sprich: den gesellschaftlichen Bedingungen der Konstitution des Individuums, diese zugleich und im Widerspruch zur narrativ vergegenwärtigten Realität dieses Individuums als scheinbar irrelevant auf sich beruhen läßt. Helmut Heißenbüttel: “Anmerkungen zu einer Literatur der Selbstentblößer”, in: ders.: Zur Tradition der Moderne. Aufsätze und Anmerkungen 1964–1971, Neuwied/Berlin 1972, S. 80.

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  9. Vgl. Agnes Heller: Theorie der Gefühle, Hamburg 1980, die — in Anlehnung an Tomkins — das “Triebgefühl (Drive)” als “Abstraktion” einführt, um sogleich hinzuzusetzen: “Diese Abstraktion ist aber vernünftig”, und zwar deshalb, weil auch dann, wenn gesellschaftliche “Kodeterminanten” in die psychologische Form des “Triebgefühls” eingegangen sind, diese Form psychischer Unmittelbarkeit dadurch nicht angetastet wird (S. 91 f.). Näher an der Denk- und Ausdrucksweise des 18. Jahrhunderts ist Hegel, dessen Psychologie diejenige der Aufklärung, vor allem deren Interesse an den formalen Bestimmungen der seelischen Aktivitäten, systematisiert und in gewisser Weise vollendet. In seinem System des subjektiven Geistes trägt die psychologische Form des Bedürfnisses den Namen der “Begierde” bzw. des “Triebs” und stellt die erste Form des Selbstbewußtseins, nämlich “das Selbstbewußtsein in seiner Unmittelbarkeit” dar;

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  10. sie hat eine geradezu göttliche Inklination zur totalen und simultanen Realisierung des Zuschauer- und Schauspielerseins: der Darsteller will immer von allen gesehen werden.” Manfred Sommer: “Übergangsschwierigkeiten — zur Konstitution und Prätention moralischer Identität”, in: Odo Marquard/Karlheinz Stierle: Identität, München 1979 (= Poetik und Hermeneutik VIII), S. 435–462, Zit. S. 458.

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IV. Die Auflösung der Psychoanalyse in eine ästhetische Weltperspektive

  1. Diese Behauptung geht über die Auffassung von Schings hinaus, daß der psychologische Roman im Bezug auf “Harmonie und Wohlklang”, die er ankündige, “an die Grenze seiner erfahrungsseelenkundlichen Zuständigkeit” stoße. HansJürgen Schings: “Agathon — Anton Reiser — Wilhelm Meister. Zur Pathenogenese des modernen Subjekts im Bildungsroman”, in: Wolfgang Wittkowski (Hrsg.): Goethe im Kontext, Tübingen 1984, S. 42–68, Zit. S. 60.

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  2. Vgl. Wilhelm Altenberger: Karl Philipp Moritz’ pädagogische Ansichten, Diss. Leipzig 1905;

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  3. Julia Gehring: Karl Philipp Moritz als Pädagoge, Diss. Zürich, Arosa 1950. Altenberger stellt vor allem die Bezüge von Moritz’ pädagogischem Denken zur zeitgenössischen Pädagogik dar, Gehring legt den Schwerpunkt ihrer Darstellung auf seine erzieherische Praxis.

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  4. Das melancholische Resümee, das Moritz’ Freund Klischnig in seiner ’Fortsetzung’ des von ihm ganz als Lebensbericht aufgefaßten Reiser-Romans zieht, verfehlt die Bedeutung von Moritz’ psychologischem Lebenswerk (und aus anderen Gründen auch diejenige seiner ästhetischen Theorie): “Und so hatte er denn durch alle seine Bemühungen für die Bildung der Nation auch nicht das geringste bewirkt, und sich noch obendrein viele Feinde gemacht.” Karl Friedrich Klischnig: Erinnerungen aus den zehn letzten Lebensjahren meines Freundes Anton Reiser, Berlin 1794, S. 98. Zur historischen Bedeutung von Moritz’ Ästhetik für die Entwicklung vor allem des klassischen, aber auch des romantischen Kunstideals vgl. Hanns-Heino Ewers: Die schöne Individualität. Zur Genesis des bürgerlichen Kunstideals, Stuttgart 1978, bes. S. 10, 37 f.;

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  5. Ulrich Hubert: Karl Philipp Moritz und die Anfänge der Romantik, Frankfurt/M. 1971;

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  6. Rudolf Unger: “Zur seelengeschichtlichen Genesis der Romantik. Karl Philipp Moritz als Vorläufer von Jean Paul und Novalis”, in: ders.: Zur Dichtungs- und Geistesgeschichte der Goethezeit, Darmstadt 1966, S. 144–180.

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  7. Martin Schreink: Über den Umgang mit Geisteskranken. Die Entwicklung der psychiatrischen Therapie vom ’moralischen Regime’ in England und Frankreich zu den ’psychischen Curmethoden’ in Deutschland, Berlin/Heidelberg/New York 1973;

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  8. Odo Marquard: “Über einige Beziehungen zwischen Ästhetik und Therapeutik in der Philosophie des 19. Jahrhunderts”, in: Hans Joachim Schrimpf (Hrsg.): Literatur und Gesellschaft. Vom 19. ins 20. Jahrhundert. Festgabe für Benno von Wiese, Bonn 1963, S. 22–55, der vor allem die Verbindung von Schelling zu Freud hervorhebt. Peter Sloterdijks psychologisch-philosophischer Roman Der Zauberbaum. Die Entstehung der Psychoanalyse im Jahr 1785. Epischer Versuch zur Philosophie der Psychologie, Frankfurt/M. 1985, setzt den sozialen und geistesgeschichtlichen Ort für die Entstehung der Psychoanalyse im europäischen Raum kurz vor dem Ausbruch der Französischen Revolution an, läßt die Tiefenpsychologie aber erst im Wiener Arzt Dr. S. Freud zum Selbstbewußtsein kommen. Die Erfahrungsseelenkunde und ihre Tradition erhält in Sloterdijks ästhetisch-philosophischem Spiel keine Rolle.

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Spies, B. (1992). Von der Genese des Psychologischen Subjekts aus dem Scheitern des Moralischen Aufsteigers: Die Geschichte des Anton Reiser. In: Politische Kritik, psychologische Hermeneutik, ästhetischer Blick. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03433-5_5

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