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Die Entwicklung Sittlichen Denkens von der Legitimation zur Anspruchshaltung

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Politische Kritik, psychologische Hermeneutik, ästhetischer Blick
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Zusammenfassung

Das Selbstbewußtsein moderner Individuen, ihr Leben aufgrund freier Wertentscheidungen nach einem eigenen Lebensplan zu gestalten und dabei sich als zugleich abhängiges und tragendes Element der politisch verfaßten Allgemeinheit zu reflektieren, das Bewußtsein also, das sie zum Staatsbürger qualifiziert, ist in Deutschland ein Jahrhundert älter als die politische Gestalt des Rechtssubjekts, welches frei über sein Eigentum verfügt, seine Meinung unbefangen zum Ausdruck bringen kann und mit einer Wahlstimme an der politischen Willensbildung beteiligt ist. Jene Befähigung zur Erfüllung der Staatsbürgerfunktionen, die auch heutzutage nicht allein durch die Lektüre des Verfassungstextes und des Bürgerlichen Gesetzbuchs erworben wird, ist erst recht historisch kein Produkt der Politik, sondern eine Kreation der Kultur, und zwar namentlich der Uterarischen des 18. Jahrhunderts. Sie wurde nicht auf direkte oder indirekte Veranlassung der damaligen politischen Mächte, sondern getrennt von ihnen und in mehr oder minder eingestandenem Gegensatz zu ihnen entwickelt. Freilich stellt sie auch keine creatio ex nihilo dar. Sie geht darauf zurück, daß eine in Europa seit der Antike bekannte Gestalt aus dem kulturellen wie dem praktischen Leben, das sittliche Subjekt, sich und sein Weltbild neu definiert. Es tritt aus dem Ex post der Legitimation vorhandener Ordnimg und damit der existenten Verteilung von Macht und Gehorsam, von Erfolg und Schaden heraus und nimmt den Standpunkt einer Anspruchshaltung ein, die reklamiert, daß seine Ethik die Verlaufsgesetze des weltlichen — und nicht nur des politischen — Geschehens ex ante bestimmen solle.

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Anmerkungen

I. Prolegomena: Weltmann, Hausvater, Schiffbrüchiger

  1. Balthasar Gracián: Handorakel und Kunst der Weltklugheit. Aus dessen Werken gezogen von D. Vincendo Juan de Lastanosa und aus dem Spanischen Original treu und sorgfältig übersetzt von Arthur Schopenhauer, in: Schopenhauers sämtliche Werke, hrsg. v. Paul Deussen, fortgeführt v. Arthur Hübscher, Bd. VI, München 1923.

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  2. Ich zitiere nach der von Arthur Hübscher herausgegebenen ReclamAusgabe, Stuttgart 1964 (= RUB 2771/72), die vom Text der kritischen Schopenhauer-Ausgabe nur durch eine behutsame Modernisierung der Orthographie abweicht. Die drei von Gracián entworfenen Idealcharaktere tragen den Namen des Héroe (1637), des Politico (1640) und des Discreto (1646). Zu den Standardwerken der geistesgeschichtlichen und Hteratunvissenschaftlichen Erschließung von Graciáns Werk und Wirkung zählen nach wie vor: Karl Borinski: Baltasar Gracián und die Hoflitteratur in Deutschland (1894), Neudr. Tübingen 1971;

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  3. Werner Krauss: Graciáns Lebenslehre, Frankfurt/M. 1947.

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  4. Arthur Hübscher: Nachwort zur Reclam-Ausgabe, S. 159. Nicht von ungefähr sind in Hübschers Traditionslinie deutsche Fürstenspiegel nicht genannt, und zwar nicht nur deshalb, weil ein Einfluß auf Gracián historisch nicht anzunehmen ist, sondern vor allem aus dem Grund, daß die deutschen Fürstenspiegel einer ganz anderen Gattung von Schriften angehören. Traditionellerweise stellen sie didaktisch konzipierte Handbücher für den fürstlichen Nachwuchs dar, die in den für die Regierungsaufgaben als nötig erachteten Tugenden eine praxisorientierte Unterweisung bieten, so daß sich neben allgemeinsten Erbaulichkeiten über ein gottgefälliges Leben Hinweise für das anzuratende Verhältnis des Fürsten zu den verschiedenen Ständen, zum Abgabenwesen, kurz: zu allerlei praktischen Fragen feudalherrscherlicher Ökonomik und Politik finden. Einer der bekanntesten Fürstenspiegel, Jakob Wimpfelings Agatharchia (1498), umfaßt Bildungsgüter aus der Tradition der Panegyrik, allgemeine Empfehlungen zu Freigebigkeit und Mäßigkeit, die Forderung, der Fürst solle Latein können, die Aufforderung, bei den Untertanen auf Zucht und Ordnung (bis hin zur Kleiderordnung) zu achten sowie den guten Rat, aus Kostengründen den Frieden dem Krieg vorzuziehen und die Saaten der Untertanen nicht niederzureiten. Vgl. Ludwig Geiger: “Jakob Wimpfeling”, ADB 44 (1898), 524–537, bes. den Katalog der Ratschläge S. 531. Die Vorstellung, daß die Sphäre der Politik einen besonderen Handlungsbereich konstituiere — die Grundidee von Machiavellis Principe und die stillschweigende Voraussetzung des Handorakels — bleibt den Fürstenspiegeln fremd. Zu Inhalt und Standpunkt dieser Gattung moralischer Schriften in der frühen Neuzeit vgl. die materialreiche Studie von Bruno Singer: Die Fürstenspiegel in Deutschland im Zeitalter des Humanismus und der Reformation, München 1981 (= Humanistische Bibliothek, hrsg. v. Ernesto Grassi, Reihe I: Abhandlungen, Bd. 32).

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  5. Die spezifisch höfische “Rationalität” besteht, so faßt Elias seine Forschungen zusammen, in der “kalkulierenden Planung der eigenen Strategie im Hinblick auf den möglichen Gewinn oder Verlust von Status- und Prestigechancen unter dem Druck einer unablässigen Konkurrenz um Machtchancen dieser Art.” Obgleich diese Einsichten am französischen Hof vor allem des 18. Jahrhunderts gewonnen sind, lassen sie sich, so generell wie hier angeführt, durchaus auf den sozialen Bereich übertragen, den Gracián im Auge hat. Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie, Neuwied/Berlin 1969 (= Soziologische Texte Bd. 54), S. 142.

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  6. Belege bei Klaus Uhlig: “Moral und Politik in der europäischen Hoferziehung”, in: Rudolf Haas u.a. (Hrsg.): Literatur als Kritik des Lebens. Festschrift zum 65. Geburtstag von Ludwig Borinski, Heidelberg 1975, S. 27–51.

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  7. Zu antiken und stoischen Einflüssen auf Gracián vgl. Gerhardt Schröder: Balthasar Gracions ‘Criticon’. Eine Untersuchung zur Beziehung zwischen Manierismus und Moralistik, München 1966 (= Freiburger Schriften zur romanischen Philologie, Bd. 2), bes. S. 66–118;

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  8. Hellmuth Jansen: Die Grundbegriffe des Baltasar Gracián, Genf/Paris 1958 (= Kölner romanistische Arbeiten, N.F. Nr. 9), S. 74 passim.

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  9. Schröder (a.a.O.) unterstreicht mehr die stoischen Elemente, während Mulagk Gracián stärker durch die aristotelisch-scholastische Tradition beeinflußt sieht: Karl-Heinz Mulagk: Phänomene des politischen Menschen im 17. Jahrhundert. Propädeutische Studien zum Werk Lohensteins unter besonderer Berücksichtigung Diego Saavedra Fajardos und Baltasar Graciáns, Berlin 1973 (= Philologische Studien und Quellen, Heft 66).

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  10. Daraus, daß Gracián den zugleich gesellschaftlichen und ethischen Sonderstatus des Hofs nicht einer eigenen Rechtfertigung zuführt, schließt Dieter Kimpel, daß das Handorakel dem Hof die Legitimität absprechen wolle: “Da Gracián dem Hof kultur- und menschenbildende Maßstäbe nicht zusprechen kann, besteht für ihn auch kein Interesse, die Frage nach der Rechtmäßigkeit von Staat und Machtentfaltung zu erörtern. In seinem Verständnis hat die zentrale Verfassungsinstitution ihren politischen Sonderstatus und die kulturell-ethische Vorbildlichkeit eingebüßt.” Wenn dem so ist, dann bleibt allerdings unerfindlich, weshalb Gracián diesen Hof und die Sphäre der “Machtentfaltung” als einen Lebensbereich bespricht, in dem der sittliche Ehrgeiz, ein Heiliger zu werden, sehr wohl am Platz sei. Dieter Kimpel: Der Roman der Aufklärung (1670–1774), 2. Aufl. Stuttgart 1977 (= Slg. Metzler M 68), S. 119.

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  11. Helmuth Kiesel weist darauf hin, daß das Handorakel zwar “die wichtigsten Elemente einer höfischen Erfolgslehre” enthalte, streitet ihm aber im Vergleich zu den übrigen Hofschulen den Charakter eines Regelwerks ab. Alfred Blüher merkt an, daß Graciáns “kritische Beobachtungen zur zwischenmenschlichen Lebenstaktik” nur Weise belehren, insofern sie vom Leser schon eigenes Verständnis, eigene Erfahrung und ein kritisches Urteil verlangen, ehe sie möglicherweise praxisrelevant werden könnten. Helmuth Kiesel: ’Bei Hof, bei Höll’. Untersuchungen zur literarischen Hofkritik von Sebastian Brant bis Friedrich Schiller, Tübingen 1979, S. 181;

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  12. Karl Alfred Blüher: “Graciáns Aphorismen im ’Oráculo manual’ und die Tradition der politischen Aphorismensammlungen in Spanien”, in: Gerhard Neumann (Hrsg.): Der Aphorismus, Darmstadt 1967, S. 413.

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  13. Christian Thomasius: Einleitung zur Sittenlehre, Halle 1692;

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  14. ders.: Ausübung der Sittenlehre, Halle 1696;

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  15. ders. (Hrsg.): Christian Thomasius. Leben und Lebenswerk, Halle 1931, Neudr. Aalen 1979, S. 1–248, hier S. 14.

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  16. Frederik M. Barnard feiert das undogmatische Temperament des Frühaufklärers geradezu als “his imaginative sweep, his down-to-earth-concreteness, his disdain for syllogistic pedantry”. Frederik M. Barnard: “’Aufklärung’ and ’Mündigkeit’: Thomasius, Kant, and Herder”, DVjs 57 (1983), 278–297.

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  17. Diese Reduktion gilt nur für diese Stelle und nur für den bestimmten Stand des “Hausvaters”, dessen Klugheit und Tugend hier Thema ist. Es gehört zu Thomasius’ Eklektizismus, daß er sich an anderer Stelle, wo er das Selbstbewußtsein Tugendhafter bespricht, mit Nachdruck dafür verwendet, daß Tugend nicht nur Gesinnung, sondern Handeln zugunsten der Mitmenschen zu sein habe. Diese zweite Seite hebt Ernst Bloch besonders hervor. Ernst Bloch: Christian Thomasius, ein deutscher Gelehrter ohne Misere, Frankfurt/M. 1967, S. 38 passim (zuerst erschienen in: ders.: Naturrecht und menschliche Würde, Gesamtausgabe, Bd. VI, Frankfurt/M. 1961).

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  18. seine ’socialitas’ geht aus der kommunikativen Vernunftnatur des Menschen hervor.” Gerhard Sauder: “Christian Thomasius”, in: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 3: Deutsche Aufklärung bis zur französischen Revolution 1680–1789, hrsg. v. Rolf Grimminger, München 1980, S. 239–250, Zit. S. 243. Daß Thomasius mit der “vernünfftigen Liebe” ein formales Ordnungsprinzip für die Hierarchie der Tugenden einführt, hat Werner Schneiders zu der Behauptung veranlaßt, dessen Ethik sei “eine universale und utopische Freundschaftslehre, vor allem aber auch eine erotische Liebeskunst.” Angesichts der konstitutiven Bedeutung, die bei Thomasius den jeweiligen gesellschaftlichen Voraussetzungen für die Inhaltsbestimmung des tugendhaften Lebens zukommt, erscheint diese Auffassung allerdings etwas übertrieben. Werner Schneiders: Naturrecht und Liebesethik. Zur Geschichte der praktischen Philosophie im Hinblick auf Christian Thomasius, Hildesheim/New York 1971, S. 239.

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  19. Vgl. Liselotte Neisser: Christian Thomasius und seine Beziehung zum Pietismus, München 1928.

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  20. Schnabel nannte seinen Roman ursprünglich Wunderliche Fata einiger See = Fahrer. Der Titel Insel Felsenburg, den Tieck über seine Neuausgabe von 1828 setzte, war schon im 18. Jahrhundert gebräuchlich. Ich zitiere den Roman nach der von Fritz Brüggemann veranstalteten Ausgabe: Johann Gottfried Schnabel: Wunderliche Fata einiger See-Fahrer, Deutsche Literatur. Sammlung literarischer Kunst- und Kulturdenkmäler in Entwicklungsreihen. Reihe Aufklärung, Bd. 4, Leipzig 1932. Seitenangaben erfolgen im Text. Zur Titelfrage vgl. das Nachwort von Volker Meid und Ingeborg Springer-Strand in der Reclam-Ausgabe des Romans, Stuttgart 1979 (= RUB 8419), S. 594.

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  21. Darauf, daß der Roman einen Weltgestaltungsanspruch und das Bewußtsein seiner Unrealisierbarkeit zugleich repräsentiert, haben am nachdrücklichsten Horst Brunner und Jan Knopf hingewiesen: Jan Knopf: Frühzeit des Bürgers. Erfahrene und verleugnete Realität in den Romanen Wickrams, Grimmeishausens, Schnabels, Stuttgart 1978, bes. S. 108;

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  22. Horst Brunner: Die poetische Insel. Inseln und Inselvorstellungen in der deutschen Literatur, Stuttgart 1967, S. 105, 107. Brunners von Brüggemann beeinflußte Auffassung, die Unrealisierbarkeit des ’Paradieses auf Erden’ liege allein am Adel und nicht am Bürgertum, übersieht allerdings die Vielzahl verbrecherischer Machenschaften von Kaufleuten und anderen Angehörigen dieses Standes. (S. 107).

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  23. Peter Uwe Hohendahl: “Zum Erzählproblem des utopischen Romans im 18. Jahrhundert”, in: Gestaltungsgeschichte und Gesellschaftsgeschichte. Literatur-, kunst- und musikwissenschaftliche Studien, in Zusammenarbeit mit Käte Hamburger hrsg. v. Helmut Kreuzer, Stuttgart 1969, S. 79–114,

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  24. Zit. S. 91. Zur Abgrenzung der Insel Felsenburg von Robinsonade und Utopie vgl. Roland Haas: Lesend wird sich der Bürger seiner Welt bewußt. Der Schriftsteller Johann Gottfried Schnabel und die deutsche Entwicklung des Bürgertums in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Frankfurt/M./Bern/Las Vegas 1977, S. 114 ff.

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  25. Ludwig Stockinger: Ficta Respublica. Gattungsgeschichtliche Untersuchungen zur utopischen Erzählung in der deutschen Literatur des frühen 18. Jahrhunderts, Tübingen 1981, S. 448. Bruno Hillebrand spricht von der Inselwelt als einer “traumhaft perfekten politischen Welt”, wobei ’politisch’ nicht staatlich, sondern nach damaligem Wortgebrauch gesellschaftlich heißt. Dieser Befund widerspricht der These von Roland Haas, daß die Insel Felsenburg spezifisch bürgerliche Verhaltensweisen veranschauliche und zugleich die Ohnmachtserfahrung des von politischer Selbstbestimmung ausgeschlossenen Bürgertums reflektiere (a.a.O., S. 208 ff.). Auf die gesellschaftliche Organisation der Insel ist noch näher einzugehen;

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  26. generell läßt sich aber schon feststellen, daß ein politischer Anspruch des Bürgertums im Roman einfach nicht vorkommt und — was noch wichtiger ist — das geschilderte Bürgertum nicht als Träger eines billigenswerten Anspruchs, sondern als Bestandteil der rundweg schlimmen Welt erscheint. Bruno Hillebrand: Theorie des Romans, 2. Überarb. u. erw. Ausg. München 1980, S. 75.

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  27. Die Sicht der Welt außerhalb Felsenburgs entspricht noch ganz dem Weltbild des Picaroromans, wie Arnold Hirsch es umschrieben hat: “Über dem Diesseits liegt das Verdammungsurteil einer asketischen Weltinterpretation. Die wachsende Anpassung des frommen, unerfahrenen Helden an die Welt bedeutet […] einen moralischen Abstieg. Der Erwerb von Welttüchtigkeit, die Eingliederung in das Sozialwesen — ein Prozeß, der im modernen Bildungsroman positiv gewertet ist — wird hier negativ gewertet.” Arnold Hirsch: “Barockroman und Aufklärungsroman”, Etudes Germaniques 9 (1954), H.2/3, 5–11, Zit. S. 8.

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  28. allerdings nehmen sie die starke Psychologisierung der Figuren, durch die Brüggemann die Insel Felsenburg zum Vorläufer der Empfindsamkeit erklärte, zurück und verweisen darauf, daß das moralische Idealbild der Insel das Telos des ganzen Romans darstellt. Dagegen, die Insel als praktisch gemeinte Alternative zum Absolutismus aufzufassen, wandte sich Knopf, a.a.O., S. 92 f., 104. Fritz Brüggeman: Utopie und Robinsonade. Untersuchungen zu Schnabels Insel Felsenburg (1731–1743), Weimar 1914, Nachdr. Hildesheim 1978, S. 11;

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  29. Gabrielle Bersier: Wunschbild und Wirklichkeit Deutsche Utopien im 18. Jahrhundert, Diss. Madison/Wisconsin, Stuttgart 1981, S. 88 passim.

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  30. Käte Werner: Der Stil von Johann Gottfried Schnabels ’Insel Felsenburg’, Diss. masch. Berlin (Humboldt-Universität) 1950.

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  31. Die Arbeitsteilung, welche vor allem die Besonderheiten von Alter, Geschlecht und persönlicher Geschicklichkeit berücksichtigt, wie das den Inselbewohnern außerordentlich günstige natürliche Inventarium der Insel sind mit großer Detailgenauigkeit beschrieben, als sollte stets darauf hingewiesen werden, daß bei aller Exotik der Umstände eine ernstzunehmende Realität fingiert werde. Vgl. Rosemarie Nicolai-Haas: “Die Landschaft auf der Insel Felsenburg”, in: Alexander Ritter (Hrsg.): Landschaft und Raum in der Erzählkunst, Darmstadt 1975 (= Wege der Forschung, Bd. 418), S. 262–292.

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  32. Diese gänzlich unpsychologische Darstellungsweise spricht gegen Dietrich Naumanns Auffassung, die Insel Felsenburg huldige einem Kult der “Intimität”, die auf die “bürgerliche Privatsphäre” zurückverweise. Dietrich Naumann: Politik und Moral. Studien zur Utopie der deutschen Aufklärung, Heidelberg 1977, S. 107–109.

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  33. das Ganze des Romans ist damit aber nicht hinreichend erfaßt. Hans Mayer: Von Lessing bis Thomas Mann. Wandlungen der bürgerlichen Literatur in Deutschland, Pfullingen 1959, S. 13.

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II. Sozialhistorische Voraussetzungen des Bruchs mit höfischer Kultur und ständisch-legitimatorischer Moral

  1. Friedrich Wilhelm Henning: Das vorindustrielle Deutschland 800–1800, Paderborn 1974;

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  2. Jürgen Kuczynski: Geschichte des Alltags des deutschen Volkes 1600 bis 1945, Bd. 2: 1650–1810, Köln 1981.

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  3. Bernd Peschken hat darauf hingewiesen, daß im Merkantilismus die “Selbstbereicherung der Fürsten ohne gleichzeitige Bereicherung einer Gruppe von Untertanen überhaupt nicht möglich” war. Bernd Peschken: Versuch einer germanistischen Ideologiekritik, Stuttgart 1972 (= Texte Metzler 23), S. 7 f.

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  4. Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, a.a.O., S. 30 ff. Zu den geistesgeschichtlichen Quellen außerhalb des Protestantismus vgl. Max Horkheimer: Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie, Frankfurt/M. 1970. Er findet sie vor allem in Italien und England, weil die skizzierten Entwicklungen und damit auch ihre Folgen früher statthaben als in Deutschland.

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  5. dadurch ergibt sich einerseits erst jene “Selbstbewegung”, wie andererseits eine Alternative zu dieser Beteiligung am ökonomischen Geschehen, wenn es denn einmal so eingerichtet ist, gar nicht existiert. Auch die ’rationale’ Anpassung an das, was die vorhandenen Mittel vom Marktteilnehmer erheischen, ist so widersprüchlich nicht, sondern nur der Vollzug praktisch gewußter Notwendigkeiten. Wenn aber die “gesteigerte Rationalität” einer Gesellschaft sich in der Gleichung von Vernunft und kalkulierender Anpassung erschöpft — woran Kofler offenbar denkt -, dann kann der Grund dafür nicht einfach in der Tatsache liegen, daß getauscht wird. Wenn dem so wäre, dann wäre in einer Tauschgesellschaft nicht eine kritische Idee auch nur denkbar. Leo Kofier: Zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Versuch einer verstehenden Deutung der Neuzeit, Neuwied/Berlin 1966 (= Soziologische Texte Bd. 38), S. 393.

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  6. und zwar deshalb nicht, weil man nicht die eine Seite des praktisch notwendigen Bewußtseins als Entstehungsgrund von Weltanschauungen anführen und die ebenso notwendige zweite, das Bewußtsein der Abhängigkeit vom Gesamtprozeß, übergehen kann. Generell sei darauf hingewiesen, daß Überlegungen zur Wirkung gesellschaftlicher Vorgänge auf das Bewußtsein zweierlei voraussetzen, nämlich nicht nur eine vorhandene Gesellschaft, sondern auch bereits gegebene Bewußtseinsinhalte, auf die solche Vorgänge allenfalls wirken. Dieser Einwand gegen die direkte Übersetzung von Kategorien sozioökonomischen Wandels in solche der Bewußtseinsgeschichte sei auch gegen den Auftakt von Grimmingers sozialhistorischem Überblick vorgebracht, der mit anderer Tendenz, aber nach ähnlicher Methode die Tatsache, daß die frühe Aufklärung den individuellen Nutzen zum Argument erhebt, aus der Nutzenkalkulation der Marktsubjekte ableitet. Allerdings übersieht Grimminger keineswegs neben dem “ökonomisch-instrumentellen” das “moralische Heilsbewußtsein der Aufklärung”. Lucien Goldmann: Der christliche Bürger und die Aufklärung, Neuwied/Berlin 1968, S. 22. Rolf Grimminger: “Aufklärung, Absolutismus und bürgerliche Individuen. Über den notwendigen Zusammenhang von Literatur, Gesellschaft und Staat im 18. Jahrhundert”, in: ders. (Hrsg.): Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 3, a.a.O., S. 15–102, bes. S. 20–22.

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III. Die Fiktion von der globalen Realität sittlicher Innerlichkeit: Gellerts Schwedische Gräfin von G***

  1. Fritz Brüggemann: Gellerts ’Schwedische Gräfin’. Der Roman der Welt- und Lebensanschauung des vorsubjektivistischen Bürgertums, Aachen 1925;

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  2. Kurt May: Das Weltbild in Gellerts Dichtung, Frankfurt/M. 1928.

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  3. Karl Otto Frenzel: Über Gellerts religiöses Wirken, Bautzen 1894,

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  4. Alessandro Pellegrini: “Die Krise der Aufklärung”, Literaturwissenschaftliches Jahrbuch N.F. 7 (1966), 37–96, hier S. 38, 54 f.

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  5. F. J. Schneider (Die deutsche Dichtung der Aufklärungszeit 1700–1785, 2. Aufl. Stuttgart 1948) spricht von einem “seltsamen literarischen Wechselbalge” (S. 308). Hans Heinrich Borcherdt gesteht Geliert zwar zu, “dem deutschen Roman des 18. Jahrhunderts neue Wege gewiesen” zu haben, hält aber die “krasse Fabel” für einen erheblichen Mangel. (Geschichte des Romans und der Novelle in Deutschland, Bd. I, Leipzig 1926, S. 277). “Als Ganzes völlig mißlungen” erscheint Gellerts Roman in den Augen von Albert Köster (Die deutsche Literatur der Aufklärungszeit, Heidelberg 1925, S. 74). Ähnlich urteilt auch Norbert Miller (Romananfänge. Versuch zu einer Poetik des Romans, Berlin 1965, S. 44). Für Herbert Singer blamiert sich Gellerts Roman nicht nur vor der späteren, mit Wieland einsetzenden literarischen Entwicklung, sondern auch vor deren Traditionen: “Gellerts Roman hat mit der Fülle der Geschehnisse, der abrupten Herstellung extremster Situationen, dem hilflosen Gegängeltsein der Figuren durch ein übermächtiges — wenngleich niemals erörtertes — Geschick wesentliche Elemente des höfisch-historischen Romans übernommen, dies sein Vorbild aber durch gattungsfremde Tendenzen um seinen Sinn gebracht, ohne doch zu einer neuen, einheitlichen Konzeption zu gelangen.” (Der deutsche Roman zwischen Barock und Rokoko, Köln/Graz 1963, S. 156 f.). Gegen diese Plädoyers auf Nichtbefassung stehen Arbeiten wie die von Carsten Schlingmann: Geliert. Eine literarhistorische Revision, Bad Homburg/Berlin/Zürich 1967 (= Frankfurter Beiträge zur Germanistik, Bd. 3) oder Eckhardt Meyer-Krentler: Der andere Roman. Gellerts ’Schwedische Gräfin’: Von der aufklärerischen Propaganda gegen den ’Roman’ zur empfindsamen Erlebnisdichtung, Göppingen 1974. Auch Dieter Kimpels Überblick über den Roman der Aufklärung ist hier zu nennen. Er weist vor allem darauf hin, daß in Gellerts Praktischer Abhandlung vom guten Geschmack in Briefen (1751) ein Beitrag zur Romanpoetologie vorliegt, der über Gottsched hinaus auf Blanckenburg verweist (a.a.O., S. 97–100).

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  6. Kurt Ingo Flessau: Der moralische Roman. Studien zur gesellschaftskritischen Trivialliteratur der Goethezeit, Köln/Graz 1968, S. 20 ff.

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  7. “Bedenkliche Situationen, die Richardson vermieden hätte”, sowie eine konsequentere Durchführung des Gelassenheitsideals bewegen L. M. Price dazu, Geliert eher in die Nachfolge von Marivaux als von Richardson zu stellen. Andererseits ist Gellerts Begeisterung über Richardson verbürgt, und die Anklänge seines Romans an Pamela sind unübersehbar (vgl. Kimpel, a.a.O., S. 96). Lawrence Marsden Price: Die Aufnahme englischer Literatur in Deutschland 1500–1960, Bern/München 1961, S. 178.

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  8. und wo eine Tugend regiert, wenn derselbe tugendhaft seyn soll.” In diesem offenen Sinn gibt Geliert in den Moralischen Vorlesungen eine Reihe von Charakterbildern. Die Charaktere seines Romans weisen zwar eine je verschiedene “Vermischung” von Fähigkeiten und Eigenschaften auf. Wichtiger aber als die Vermischung ist das von Th. W. Adorno am Charakter hervorgehobene Moment, daß in dessen Herausbildung als eines mit sich identischen eine Objektivierung des Individuums stattfindet, durch die es sich zu sich selbst als einem Äußerlichen verhalten kann: dies trifft zumindest auf die Gräfin, den Grafen und den Herrn R. zu. Johann Jacob Breitinger: Critische Abhandlung von der Natur, den Absichten und dem Gebrauche der Gleichnisse, Faksimiledruck nach der ersten Ausgabe von 1740, Stuttgart 1967 (= Deutsche Neudrucke. Reihe Texte des 18. Jahrhunderts), S. 472. Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, Frankfurt/M. 1970, S. 216. Zur literarischen Grenzgattung des “moralischen Charakters” vgl. Ute Schneider: Der moralische Charakter. Ein Mittel aufklärerischer Menschendarstellung in den frühen deutschen Wochenschriften, Stuttgart 1976;

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  9. Hugo Beyer: Die moralische Erzählung in Deutschland bis zu Heinrich von Kleist (1941), Nachdr. Hildesheim 1973;

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  10. Gertrud Gelderblom: “Die Charaktertypen Theophrasts, Labruyères, Gellerts und Rabeners”, GRM 14 (1926), 269–284.

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  11. die Stellungnahme der Gräfin widerspricht auch Grimmingers Behauptung von der generellen Triebfeindlichkeit des Aufklärungszeitalters. Die Romangestalten sind eher auf die Demonstration zugeschnitten, daß Tugend die persönliche Sinnlichkeit keineswegs beschneide, und das nicht nur auf sexuellem Gebiet. Dies faßt Günther Müller auf, der die angeführte Überlegung der Gräfin zum Anlaß eines ins Grundsätzliche zielenden Kommentars nimmt: “Aber es ist auch gar nicht einseitig die vernünftig-empfindsame Tugendlehre, der Geliert seine weitreichende Wirkung verdankte. Es kommt als ebenso wichtig hinzu sein ungewöhnlich empfindliches Organ für die verschiedenen Gestalten, in denen Nutzwille und Glücksverlangen seiner Zeit erscheint. Er ist naiv oder ehrlich genug, diese feine und tiefe Selbstsucht, die er im Grunde seines Wunschbildes erfahren hat, abzumalen. Und er findet einen Ausgleich zwischen ihr und dem Ideal des zärtlichen und genügsamen Edelmuts.” Lothar Pikulik: ’Bürgerliches Trauerspiel’ und Empfindsamkeit, Köln/Graz 1966 (= Literatur und Leben N.F., Bd. 9), S. 25;

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  12. Günther Müller: Geschichte der deutschen Seele, Freiburg i. Br. 1939, S. 207.

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  13. Die grundlegende Arbeit dazu liegt vor in der Abhandlung von Wolfdietrich Rasch: Freundschaftskult und Freundschaftsdichtung im deutschen Schrifttum des 18. Jahrhunderts, Halle 1936 (= DVjs-Buchreihe Bd. 21);

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  14. dort bes. S. 129–134. Vgl. auch Georg Jäger: Empfindsamkeit und Roman. Wortgeschichte, Theorie und Kritik im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1969, S. 47 f. passim. Das Konzept der empfindsamen Freundschaft, das Geliert in den Moralischen Vorlesungen entwickelt, hat Eckhardt Meyer-Krentler dargestellt und zugleich gezeigt, daß Geliert es mit Klopstock und Moser teilt: Eckhardt Meyer-Krentler: Der Bürger als Freund. Ein sozialethisches Programm und seine Kritik in der neueren deutschen Erzählliteratur, München 1984, S. 33 ff.

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  15. Die einschlägigen Verdikte können sich allesamt auf Brüggemann (a.a.O.) und May (a.a.O.) berufen, die Gellerts literarisches Werk für das 20. Jahrhundert wiederentdeckt haben. May erblickt statt “epischer Objektivität” nur “epische Maskierung”, die zwar “sehr abwechslungsvoll, aber immer nur leicht aufgesetzt” wirke. Der Maßstab dieser Einschätzung geht aus folgender Äußerung hervor: “Es gibt in dem Roman nichts, das nicht aus dem Munde seiner Figuren erzählt oder aus einem ihrer Briefe heraus berichtet würde. Doch setzt sich in all diesen Schrift- und Redestücken die Individualität des Schreibers noch nicht durch […]” (a.a.O., S. 51). May geht offenbar nicht nur von einem anderen als Gellerts Individualitätsbegriff aus, sondern auch von einer damals noch nicht existenten ästhetischen Norm. Er übersieht dabei ganz, daß Geliert historisch einiges im Sinne der Herausbildung dieser Norm bewirkt hat. Vgl. Diethelm Brüggemann: “Geliert, der gute Geschmack und die üblen Briefsteller”, DVjs 45 (1971), 117–149, bes. S. 146 ff.

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  16. August Langen faßt szenische Arrangements nach dem geschilderten Muster zusammen im Begriff der “Situation”: “Die Handlung zerfällt in eine Folge von Bildern, deren jedes einen kleinen Ausschnitt erfaßt und im Rahmen heraushebt. Die zeitliche Dauer dieses Ausschnitts ist auf einen kurzen, in sich geschlossenen Handlungsablauf begrenzt, ja sie kann bis auf einen Moment zusammenschrumpfen.” Diese narrative Optik dient vor allem der Darstellung des einzelnen Charakters. “Höhepunkt und Grenze rationalistischer Menschendarstellung liegen in dieser Form.” August Langen: Anschauungsformen der deutschen Dichtung des 18. Jahrhunderts. Rahmenschau und Rationalismus, Jena 1934, Nachdr. Darmstadt 1965, S. 55. Vgl. auch May, a.a.O., S. 53.

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  17. Geliert hat diese Stilmittel einer Erzähltradition, welcher der Kunstcharakter zu seiner Zeit noch grundsätzlich abgesprochen wurde, aufgegriffen, nach Maßgabe seiner Darstellungsbedürfnisse eingesetzt und damit zugleich der zeitgenössischen Abwertung des Romans entgegengewirkt. In den Poetiken und Ästhetiken von Baumgarten, Breitinger, Batteux und Dubos wird der Roman kaum erwähnt. Erst in der 4. Auflage seiner Critischen Dichtkunst räumt ihm Gottsched ein Kapitel ein. Die Allgemeine Deutsche Bibliothek richtet erst 1766 eine Abteilung für Romanrezensionen ein. Die publikumswirksamen gelehrten Zeitschriften wie die Westphälischen Bemühungen, die Freymüthigen Nachrichten, die Schlesischen zuverlässigen Nachrichten, die Belinische privilegierte Zeitung, die Frankfurtischen gelehrten Zeitungen und die Göttingischen Zeitungen beginnen in den 40er Jahren, durch Rezensionen ihre Leserschaft mit Romanen bekanntzumachen, zunächst ausschließlich mit französischen, dann vereinzelt auch mit deutschen. Vgl. Ernst Weber: Die poetologische Selbstreflexion im deutschen Roman des 18. Jahrhunderts. Zu Theorie und Praxis von ’Roman’ und ’Historie’ und pragmatischem Roman, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1974, S. 88 f. Die moralischen Wochenschriften erkennen etwa um 1745 den Roman als Kunstform an. Vgl. Wolfgang Martens: Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der moralischen Wochenschriften, Stuttgart 1968, S. 512 ff. Gellerts Bedeutung für diese Entwicklung bezeugen der Gellert-Befürworter Johann Adolf Schlegel, aber auch Gegner wie Mauvillon und Unzer. Schlegel setzte im eigenen Zusatz zu seiner Batteux-Übersetzung (1751) “in der Mitte zwischen den schönen Künsten, und den übrigen Gattungen der Prosa” eine “prosaische Dichtkunst” an. Als deutsches Beispiel für sie nennt er Geliert: “Sollte in der That Herrn Gellerts schwedische Gräfin darum kein Werk der schönen Kunst seyn, weil ihre Schreibart weder homerisch noch racinisch ist?” (Zu weiteren zeitgenössischen Positionen mit ähnlicher Tendenz s. Georg Jäger, a.a.O., S. 103–105.) Fast noch deutlicher unterstreicht die Übertreibung von Mauvillon/Unzer Gellerts Bedeutung: “Ja selbst das schädliche Lesen der Franzosen und Engländer (der Romane nämlich und andrer dergleichen Schriften) hat Geliert zuerst in Deutschland aufgebracht.” Ch. Batteux/J. A. Schlegel: Einschränkung der schonen Künste auf einen einzigen Grundsatz; aus dem Französischen übersetzt und mit verschiednen eignen damit verwandten Abhandlungen begleitet, T1.2, 3. Aufl. Leipzig 1770, S. 181, 182;

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  18. Jakob Mauvillon/Ludwig August Unzer: Ueber den Werth einiger deutschen Dichter und über andere Gegenstände den Geschmack und die schöne Litteratur betreffend. Ein Briefwechsel, 2 Stücke, Frankfurt/Leipzig 1771/72, I, S. 277. Zu dieser Schrift vgl. Schlingmann, a.a.O., S. 18–34.

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  19. B.S.] und der Gräfin nur insofern etwas, als sie nun keine sinnliche Erfüllung mehr findet.” (A.a.O., S. 145) Erich Schmidt: Richardson, Rousseau und Goethe (875), Nachdr. Jena 1924, S. 31;

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  20. Paul Kluckhohn: Die Auffassung der Liebe in der Literatur des 18. Jahrhunderts und in der deutschen Romantik, 2. Aufl. Halle 1931, S. 158. Zur Kritik an Schlingmann vgl. Jürgen Jacobs: Prosa der Aufklärung. Kommentar zu einer Epoche, München 1967, S. 238.

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  21. Greiner hat dafür den ironischen, gleichwohl treffenden Ausdruck gefunden, es handle sich hier um “moralische Planwirtschaft”: Wenn der Plan gelingt, dann sind Plan und Wirtschaft in der Tat identisch. Martin Greiner: Die Entstehung der modernen Unterhaltungsliteratur. Studien zum Trivialroman des 18. Jahrhunderts, Reinbek 1964, S. 31.

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  22. Peter Uwe Hohendahl: Der europäische Roman der Empfindsamkeit, Wiesbaden 1977 (= Athenaion Studientexte Bd. 1), S. 75.

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  23. Jürgen Jacobs: Prosa der Aufklärung, a.a.O., S. 154. Daß Resignation Inhalt wie Umfang der Tugendhaftigkeit bestimmen, ist auch die Auffassung von Ursula Rausch. Aufgrund dieser gemeinsamen Einschätzung diskutiert die Gellert-For-schung nur noch, ob die Selbstverleugnung bruchlos oder nur bruchstückhaft erreicht werde. Robert H. Spaethling wertet die Anwandlungen von Verzweiflung, die den Grafen in Sibirien befallen, als Indiz dafür, daß das zunächst vorgestellte Weltbild einer vernünftigen, weil praktisch gelingenden Unterordnung unter das Schicksal durch den Grafen — wie durch die Ehe seiner Kinder — infrage gestellt werde. Dieser Auffassung schließt sich Hildegard Emmel an, während Eckhardt Meyer-Krentler meint, daß dem Grafen und Steeley die Resignation gelinge, womit sie als lebenstüchtige Haltung erwiesen sei (a.a.O., S. 111–114). Ursula Rausch: Philipp von Zesens ’Addatische Rosamund’ und C. F. Gellerts ’Schwedische Gräfin von G.’ Eine Untersuchung zur Individualitätsentwicklung im deutschen Roman, Diss. masch. Freiburg 1961, S. 154 passim;

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  24. Robert H. Spaethling: “Die Schranken der Vernunft in Gellerts Leben der Schwedischen Gräfin von G.: Ein Beitrag zur Geistesgeschichte der Aufklärung”, PMLA 81 (1966), 224–235, hier S. 228 f.;

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  25. Hildegard Emmel: Geschichte des deutschen Romans, Bd. I, Bern/München 1972 (= Slg. Dalp Bd. 103), S. 95.

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  26. Peter J. Brenner: Die Krise der Selbstbehauptung. Subjekt und Wirklichkeit im Roman der Aufklärung, Tübingen 1981 (= Studien zur deutschen Literatur, Bd. 69), S. 150.

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  27. Daniel Defoe: Robinson Crusoe, London/New York 1962 (= Everyman’s Library 59), p.115.

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  28. Ivar Sagmo: “Zur Funktion des Schicksalsbegriffs in Gellerts Roman”, ZfdPh 97 (1978), 513–533, Zit. S. 26, Hervorh. v. Verf. Die Stelle, die Sagmo anspricht, lautet: “Oh, warum muß ich denn ein Schlachtopfer meiner Feinde werden! Doch es ist eine Schickung.” (26).

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  29. Erich Köhler: Der literarische Zufall, das Mögliche und die Notwendigkeit, München 1973, S. 28.

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  30. Daß das moralische Subjekt in Gellerts Roman Fremdes als Eigenes aufzufassen versucht, deutet auch Robert Petsch an: höhere Gewalt wird “zur Auswirkung eines Schicksals, mit dem wir uns in einem gewissen Grade verwandt fühlen, auch wo wir es vielleicht als eine feindliche Macht, jedenfalls als ein ’Gegenüber’ empfinden.” Robert Petsch: Wesen und Formen der Erzählkunst, 2.Aufl. Halle 1934 (= DVjs Buchreihe Bd. 20), S. 258.

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  31. Zur Tradition der Kategorie der fortuna vgl. Gottfried Kirchner: Fortuna in Dichtung und Emblematik des Barock. Traditionen und Bedeutungswandel eines Motivs, Stuttgart 1970, S. 84 f.;

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  32. Richard Alewyn: “Der Roman des Barock”, in: Formkräfte der deutschen Dichtung vom Barock bis zur Gegenwart, hrsg. v. Hans Steffen, 2. durchges. Aufl. Göttingen 1967, S. 21–34;

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  33. Leo P. L. Farwick: Die Auseinandersetzung mit der Fortuna im höfischen Barockroman, Diss. Münster, Lengerich 1941.

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  34. Zur Providentia vgl. Blake Lee Spahr: “Der Barockroman als Wirklichkeit und Illusion”, in: Deutsche Romantheorien. Beiträge zu einer historischen Poetik des Romans in Deutschland, hrsg. u. eingel. v. Reinhold Grimm, Frankfurt/M./Bonn 1968, S. 17–21, bes. S. 20.

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  35. Zur Verschiebung der fatum-providentia-Polarität zur fortuna-providentia-Polarität im 17. Jahrhundert vgl. Werner Voßkamp: Untersuchungen zur Zeit- und Geschichtsauffassung im 17. Jahrhundert bei Gryphius und Lohenstein, Bonn 1967, S. 130.

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  36. so Jürgen Fohrmann: Abenteuer und Bürgertum. Zur Geschichte der deutschen Robinsonaden im 18. Jahrhundert, Stuttgart 1981, S. 187.

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  37. “Ich, fing er an, bin euer Herr und Aufseher gewesen.” Diesen Gegensatz zu leugnen, kommt dem alten Grafen nicht in den Sinn, und zwar deshalb nicht, weil er ihn für unschuldig hält: “Der Tod hebt diesen Unterschied auf, und ich gehe in eine Welt, wo ihr soviel als ich sein werdet und wo ihr für die Erfüllung eurer Pflichten ebensoviel Glück erhalten werdet, als ich für die Erfüllung der meinigen.” (19f.) Für die ideelle Anerkennung der Diener und Untertanen als nicht minder wertvoller Menschen erhält der alte Graf von diesen die Anerkennung als guter Herr: “Man kann sich die Wehmut dieser Leute leicht vorstellen. Ein jeder beweinte in ihm den Verlust eines Vaters.” (20). Der königlich-preußische Hofrat Ernst Samuel Jacob Borchward, der nach dem Erscheinen der Schwedischen Gräfin Gellerts Brieffreundschaft suchte, erkannte sogleich das Praktische an dieser moralischen Fiktion, die das Verhältnis von Herr und Knecht voraussetzt und in der beiderseitigen moralischen Anerkennung ein Mittel für das friktionslose Funktionieren dieses Verhältnisses ausmacht. Er forderte Geliert auf, im Sinn der hier wiedergegebenen Szene einen “Tractat” über das zu verfassen, was einen guten Herrn und was einen guten Diener auszeichne. Dieser verspreche, “eines der allernothwendigsten Hausbücher vernünfftiger Herrschaften, und einen beständigen Leitfaden gelehriger und noch junger Bedienter” abzugeben. Brief an Geliert vom 6. Dez. 1748, in: C. F. Gellerts Briefwechsel, hrsg. v. John F. Reynolds, Bd. I (1740–1755), Berlin/New York 1983, S. 30. Zum tatsächlich praktizierten Umgang mit Dienstboten vgl. Rolf Engelsing: “Zur Stellung der Dienstboten in der bürgerlichen Familie im 18. und 19. Jahrhundert”, in: Heidi Rosenbaum (Hrsg.): Seminar: Familie und Gesellschaftsstruktur. Materialien zu den sozioökomischen Bedingungen von Familienformen, Frankfurt/M. 1978, S. 413–424.

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  38. Die wenigen Umrisse, mit denen diese Figur gezeichnet ist, umschreiben eine seit dem Pietismus verbreitete moralische Einschätzung des Kaufmannsberufs. Die in der ökonomischen Konkurrenz unabdingbaren Techniken der Durchsetzung werden ebenso wie der Reichtum des erfolgreichen Geschäftsmanns mit einigem moralischen Mißtrauen betrachtet. Konkurrenzverhalten wie der Umgang mit Geldvermögen gelten aber nicht als per se tugendfeindliche Bereiche, sondern als ein Komplex von Versuchungen, die zugleich in besonderer Weise dem Subjekt die Bewährung seiner Moralität ermöglichen. So findet Spener den Beruf des Kaufmanns voll von Fallstricken, erklärt aber auf eine Anfrage hin: “Mir ist lieb, daß ich sehe, daß der liebe Freund, was die Kaufmannschafft selbst anlangt, keine Skrupel kennt, sondern sie für eine Lebensart erkennt, wie sie auch ist, damit dem menschlichen Geschlecht vieles genützt und also nach Gottes Willen die Liebe geübt wird.” Philipp Jacob Spener: Theologische Bedenken, 3. Aufl. Halle 1712, S. 426 f., 429, 432 ff., Zit. S. 435. Vgl. auch die bereits dargelegte Stellung von Thomasius zum Geldvermögen und den nötigen Tugenden des richtigen Umgangs damit.

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  39. Der Gegensatz von Edelmut und dem Streben nach Gewinn gibt in Gellerts Lustspielen durchweg den dramatischen Konflikt ab. Trotz der ’rührenden’ Machart dieser Komödien erscheint in ihnen die Moral viel eher als im Roman als der erhobene Zeigefinger, weil in den Antagonisten der eigennützigen Regung eine Attraktivität zugestanden wird, welche die moralischen Protagonisten in der Person des Antagonisten überwinden müssen. Dadurch, daß im Roman die moralische Antithese nicht als Konfrontation verschiedener Personen, sondern vornehmlich als anonymes Ereignis oder sachliches Verhältnis auftritt, während die dargestellten Personen und persönlichen Verhältnisse ihre Identität in der quasi unanfechtbaren Objektivität des moralischen Ideals haben, ist am Roman selbst gar nicht ohne weiteres ersichtlich, wo dem Ideal ein menschlicher Gegensatz erwachsen könnte. Im Zuge dieser epischen ’Objektivität’ des Moralischen billigt der Roman am Ende sogar dem skrupellosen Prinzen, der zu Beginn der Gräfin nachstellt und den Grafen aus dem Weg räumt, eine beständige Liebe zur Gräfin zu, während im prototypischen ’rührenden Lustspiel’ Die zärtlichen Schwestern (1747) die Figur des Siegmund dadurch unwiderruflich zum Bösewicht wird, daß er ein einziges Mal der materiellen Versuchung erliegt, wofür er moralisch “liquidiert” (Eibl) wird. Im Vergleich zu dieser dramatisierten moralischen Rigidität geht dem Roman die Attitüde des Lehrhaften ab, obgleich sich das ’fabula docet’ des Romans nicht wesentlich von der ’Botschaft’ der Komödie unterscheidet. Karl Eibl: “Bürgerliches Trauerspiel”, in: Hans-Friedrich Wessels (Hrsg.): Aufklärung. Ein literaturwissenschaftliches Studienbuch, Königstein/Ts. 1984 (= Athenäum Taschenbücher Literaturwissenschaft), S. 66–87, Zit. S. 71.

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  40. Sagmo, a.a.O., S. 529, Hervorh. B.S. Im gleichen Sinn äußert sich Klaus Schulte: “Modell eines literaturwissenschaftlichen Grundkurses. Die Funktion der Literatur bei der Formierung der bürgerlichen Klasse Deutschlands im 18. Jahrhundert”, in: Gert Mattenklott/Klaus Scherpe: Literatur der bürgerlichen Emanzipation im 18. Jahrhundert. Ansätze materialistischer Literaturwissenschaft, Kronberg/Ts. 1973 (= Literatur im historischen Prozeß 1), S. 168–178, hier S. 173.

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Spies, B. (1992). Die Entwicklung Sittlichen Denkens von der Legitimation zur Anspruchshaltung. In: Politische Kritik, psychologische Hermeneutik, ästhetischer Blick. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03433-5_2

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