Zusammenfassung
Für die Geschichtsschreibung markiert der New Yorker Börsenkrach im Oktober 1929 das Ende der relativen wirtschaftlichen und politischen Stabilität und den Beginn der Weltwirtschaftskrise. Schon vor diesem Ereignis ist der Umschwung dort spürbar, wo die Krise die ersten Opfer fordert: in den Betrieben, wo die Angst vor Entlassungen und der Lohndruck wachsen, in den ärmeren Vierteln und auf den Arbeitsnachweisen, wo sich mehr und mehr Freigesetzte drängen. Bereits seit 1928 steigen die Arbeitslosenzahlen kontinuierlich an. Während die Weltstadteuphorie in den bessergestellten Schichten, Teilen der Verwaltung und der Intelligenz ihren Höhepunkt erreicht, wächst die materielle Not in der Stadt.
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Anmerkungen
Siegfried Kracauer, Über Arbeitsnachweise (1930), S. 52.
Eine ausfuhrliche Darstellung der Auswirkungen von Arbeitslosigkeit auf das Alltagsleben und die Befindlichkeit der Betroffenen gibt Jürgen Kuczynski in seiner Geschichte des Alltags des deutschen Volkes (1982), Bd. 5, S. 90–151.
Nähere Angaben bei Henning Köhler, Berlin in der Weimarer Republik (1987), in: Ribbe, Geschichte Berlins (1987), S. 901.
Vgl. Eckhardt Köhn, Straßenrausch (1989), S. 238, sowie Michael Bienert, Weiße Magie im Feuilleton. zu Siegfried Kracauers Aufsätzen 1915–1965 (taz v. 11.9.1990) — Ausführliche Interpretationen zu Kracauers Entwicklung bis zum hier erörterten Zeitpunkt finden sich außerdem bei Inka Mülder, Siegfried Kracauer (1985) und bei David Frisby, Fragmente der Moderne (1989), S. 117ff.
An Adorno, 24. 8. 1930, Zit. n. Belke/Renz: Siegfried Kracauer (1989), S. 58.
Siegfried Kracauer, Das Ornament der Masse (1927), S. 59.
Siegfried Kracauer, Die Angestellten (1930), S. 7f.
Siegfried Kracauer, Neujahr in der Friedrichstadt (1931).
Siegfried Kracauer, Zertrümmerung und Aufbau (1931); Berliner Nebeneinander (1931); Kritischer Tag (1931); 3=6 (1931).
Siegfried Kracauer, Deutsche Bauausstellung. Vorläufige Bemerkungen (1931).
Siegfried Kracauer, Ein Stück Friedrichstraße (1932)
Siegfried Kracauer, Renovierter Jazz ( 1931).
Siegfried Kracauer, Wiederholung (1932)
Siegfried Kracauer, Aufruhr der Mittelschichten (1931), S. 99.
Siegfried Kracauer, Der bejubelte Friedericus Rex (1930).
Mülder-Bach, a.a.O., S. 95.
Siegfried Kracauer, Der verbotene Blick (1925), S. 98. Vgl. die Interpretation von Köhn, a.a.O., S. 234–237.
Siegfried Kracauer, Von Caligari zu Hitler (1947), S. 14.
Ebd., S. 15.
Kracauer an Hermann Hesse, zidert nach Karsten Wittes Nachwort zur Neuausgabe des Caligaribuches, ebd. S. 607.
Aus Wilhelm Stapels Literatenwäsche (1930), zidert nach Jochen Meyer, Berlin-Provinz (1985), S. 28. Dort wird ein umfangreiches Material zum publizistischen Aufstand gegen Berlin ausgebreitet.
Wilhelm Stapel, Der Geistige und sein Volk (1930), S. 8.
Im Schlußkapitel der Angestellten schreibt Kracauer: »Es wäre wert, darüber nachzudenken, wie man an die geistige Front gelangt, anstatt sich im Hinterland mit Stapelware abfuttern zu lassen.« (S. 112)
Siegfried Kracauer, Berlin in Deutschland (1932).
Hermann Ullmann, Flucht aus Berlin? (1932), S. 8f.
Ebd., S. 9.
Ebd., S. 77f.
Ebd., S. 42: »Mitten in einer grenzenlosen Auflösung aller wertvollen alten Bindungen begegnen wir dem muffigsten alten Gerümpel jahrhundertealter Vorurteile und erstarrter Überbleibsel aus absolutistischen Zeiten […] Es gibt […] vielleicht kein Volk, das sich den gegenseitigen Umgang durch Mangel an allgemein verbindlichen Formen, durch Klassen- und Klüngelenge, durch Illoyalität, Neid und Ressentiments rein gesellschaftlicher Natur so schwer macht wie das deutsche. Der Spießer, der Kleinbürger ist durchaus in der Mehrheit; er ist das Erbe aus Zeiten, in denen Deutschland zerstückelt war in Atome von Abhängigkeitssphären.«
Ebd., S. 39.
Ebd., S. 49.
Ebd., S. 59.
Vgl. Kracauer, Von Caligari zu Hitler (1947), S. 15: “Im Deutschland vor der Machtergreifung durchdrangen die Neigungen der Mittelklasse alle Schichten; sie konkurrierten mit den politischen Bestrebungen der Linken und füllten die Leere in den Köpfen der Oberklasse.”
Ullmann, a.a.O., S. 17.
Ebd., S. 22.
Erich Fromm, Arbeiter und Angestellte am Vorabend des dritten Reiches (1980), S. 250.
Zitate aus diesen Texten werden im laufenden Text in runden Klammern nachgewiesen. Auf eine römische Ziffer, die den Text angibt, folgt die Seitenzahl: I. Berlin ist Deutschland (Oktober 1932); II. Drei Ringe um Berlin (November 1932); III. Die Flucht aus Berlin (Dezember 1932); IV. In der Armee der Heimatlosen (Januar 1933); V. Wir leben — leben wir? (Februar 1933); VI. Der Mensch im Verlust (April 1933). — Über die Programmatik und politischen Wirksamkeit der Tat informiert Klaus Werner Schmidts Beitrag in: Fischer, Deutsche Zeitschriften des 17.–20. Jahrhunderts (1973), S. 349–346. In der Frankfurter Zeitung hat Kracauer bereits 1931 die Bedeutung der Zeitschrift unterstrichen und ihr Programm einer ideologiekridschen Analyse unterzogen (Aufruhr der Mittelschichten (1931), wieder in: Das Ornament der Masse (1963), S. 81–105).
Die provozierende Überschrift könnte eine programmatische Vorgabe sein fur die literarische Erkundung Berlins — doch die folgenden Texte knüpfen inhaltlich überhaupt nicht an sie an. Sollte es je den Plan zu einem Ganzen, zu einem relativ geschlossenen Zyklus von Reportagetexten gegeben haben, so ist er in Berlin aufgegeben worden. Die Spuren der Jahreszeiten in Hausers Stadtbeschreibungen lassen darauf schließen, daß die einzelnen Folgen nach und nach, jeweils kurz vor der Veröffentlichung geschrieben worden sind.
Hauser kennt dieses Motiv und ruft es in einer späteren Folge seiner Serie den Lesern in Erinnerung (II,668).
Im Seelenhaushalt seines Besitzers fällt dem Auto etwa die Rolle eines Haustiers zu; Erhard Schütz hat das Verhältnis des Autors zu seinem Wagen, wie es sich in früheren Reportagebüchern niederschlägt, als »Auto-Erotik« beschrieben (Erhard Schütz, Romane der Weimarer Republik (1986), S. 75.) Diese polemische Bemerkung stützt sich auf eine gründlichere Textanalyse in Schütz’ Kritik der literarischen Reportage (1977), S. 46–56. Vor Schütz haben sich bereits Werner Türk (Heinrich Hauser (1931)) und Helmut Lethen (Neue Sachlichkeit (1970), S. 68–72) kritisch mit Hausers Technikbildern auseinandergesetzt.
Auf eine Anfrage der Zeitschrift Die Literatur, die ihn im Februar 1931 vorstellte, antwortete Hauser: »Eine Biographie: Ich kann so etwas nicht schreiben. Ich habe mal den Versuch gemacht: mit totalem Mißerfolg. Ich bleibe auch am liebsten in meiner Anonymität.« (Die Literatur 33, Heft 5, S. 252)
Der Haß auf das bürgerliche Milieu, dem der Autor entstammt, und seine Technikbegeisterung sind die auffälligsten Eckpfeiler seines Weltbildes. Sein Bekenntnis zur »hartgeschmiedeten Rasse« steht neben antikapitalistischen und antisemitischen Ausfallen. Damit fügen sich seine Berichte ins ideologische Profil der Zeitschrift, in der sie erscheinen. Die letzten Berlintexte stehen freilich etwas verloren inmitten des Triumphgeheuls der Zeitschrift über die ›nationale Erhebung‹ und Anbiederungsversuchen an die nationalsozialistischen Machthaber. Vor allem in den ersten Berlintexten nimmt Hauser konservative Ideologeme in Anspruch, um seine Beobachtungen zu interpretieren; doch seine Aufnahmebereitschaft wird dadurch nicht eingeschränkt. Das Vorwort zu dem Buch Kampf gibt einen Briefwechsel mit Hausers Verleger wieder, der ahnen läßt, wie schwer es dem Autor bei aller Verwandlungsbereitschaft gefallen sein muß, sich den neuen Verhältnissen anzupassen: »Ich marschiere mit der Nation, ich bin Teil von ihr, ich habe die gleiche Richtung. Aber ich kann nicht in der Kolonne marschieren, habe in der Kolonne früher schon immer falschen Schritt gehabt. Diese Blätter sind der Versuch eines unpolitischen Menschen, sich in einen politischen Menschen zu verwandeln. Er ist vollständig mißglückt. Ich möchte augenblicklich dem Schreiben ein gewaltsames Ende machen.« (Kampf (1934), S. 3)
Die Einleitung umreißt das Erkenntnisinteresse der Abhandlung: »Wir wollen versuchen nachzuweisen, auf welche Art die Seele des arbeitslosen Menschen vernichtet wird, wie er sein Menschentum verliert und warum seine physische Weiterexistenz ganz gleichgültig ist nach dem Tod seiner Seele.« (VI, 78)
Der Fackelzug gilt bis heute »als Symbol der Machtergreifung für das ganze deutsche Reich. Er demonstrierte ungeteilte Zustimmung und Begeisterung. In Wahrheit handelte es sich um eines der vielen Täuschungsmanöver, mit denen die Nationalsozialisten ihre Herrschaft begründeten. Für den Propagandazug war die Bannmeile im Regierungsviertel aufgehoben worden, denn nur so konnte man sich der eindrucksvollen Kulisse bedienen; und diese Ausnahmegenehmigung wiederum war nur möglich, weil gleichzeitig jegliche Gegendemonstration verboten worden war.« Wolfgang Ribbe, Geschichte Berlins (1987), S. 927f.
Heinrich Hauser, Kampf (1934), S. 271.
Heinrich Hauser, Das Menschenmeer von Tempelhof (1933), S. 861.
Heinrich Hauser, Kampf (1934), S. 271.
Heinrich Hauser, Das Menschenmeer von Tempelhof (1933), S. 862.
Da es den Wünschen vieler Menschen entgegenkam, ist das faschistische Ritual nicht vorrangig als Zwangsmaßnahme zu ihrer Disziplinierung aufzufassen. »Viel wichtiger wäre es, die Erleichterung zu betonen, die Utopie einer Erlösung, die für den Teilnehmer des Rituals in der Erfahrung liegt: ›endlich brauche ich mich nicht mehr zu verstecken …‹, ›end-lich sehe und fühle ich, daß die andern fühlen wie ich …‹«, schreibt Klaus Theweleit. »Der Faschismus übersetzt so innere Zustände in riesige äußere Monumente, Ornamente als Kanalisationssysteme, in die Menschen in großer Zahl einfließen, in denen ihr Wunsch wenigstens im (monumental vergrößerten) vorgeschriebenen Bett fließen darf, in denen sie erfahren können, daß sie nicht isoliert und gespalten sind, daß sie die Übertretung des Verbots mit so vielen, möglichst mit allen anderen teilen. Daher ertragen diese Massen auch nicht, wenn nur ein einziger neben den Blökken marschiert.« (Theweleit, Männerphantasien (1977), Bd. 1, S. 449.)
»Die heftigen Sturmstöße der Worte zogen vorüber, die Massen ließen sich von ihnen anwehen und aufwühlen, man verstand wohl viele Worte nicht, aber man verstand das Gefühl, das hinter ihnen steckte, denn es war das Gefühl, das aus der Masse kam.« Heinrich Hauser, Kampf (1934), S. 273f.
Die Erfahrung der Masse beschreibt Hauser als einschneidenden Eingriffe in die eigene Idendtät, als Verlust des Selbst und als Selbstgewinn: »Etwas drang auf uns ein, eine Spannung, schwer, pressend, wir wurden uns selber fremd, und es gab Augenblicke, da wunderten wir uns darüber […] Unser Ich war ganz verloren […] in dem großen Wir.« (Ebd., S. 272f.) Beides, die rauschhafte Grenzüberschreitung und das Umfangensein durch die vorgezeichneten Grenzen des Rituals, erzeugt sowohl Lust als auch Angst: »Entrückung und Erhebung« ebenso wie die »Furcht vor Dingen, die stärker sind, als unsere Sinne noch ertragen können«. Die Ambivalenz verzögert die Annahme der Rolle eines beseelten »Atoms« in der elektrisierten ›Volksgemeinschaft‹. Ihre militaristische Prägung, die auf viele Männer stimulierend wirkte, weckt allerdings Widerstände bei Hauser, trotz seiner soldatischen Vergangenheit: »Es geht mit sonderbar: Ich marschiere mit der Nation, ich bin Teil von ihr, ich habe die gleiche Richtung. Aber ich kann nicht in der Kolonne marschieren, habe auch früher immer falschen Tritt gehabt.« (Ebd., S. 3)
Ebd, S. 272.
Ebd.
Peter Suhrkamp, »Es werde Deutschland.« (1933).
Peter Suhrkamp, März 1933 (1933).
Ebd., S. 711.
»Wir haben immer wieder versucht zu glauben, weil ein Leben ohne Glauben nicht zu ertragen ist. Und sind immer wieder ins Nichts zurückgeworfen worden. Unsere Generation gleicht einer Landschaft, die soeben aus einer ablaufenden Sintflut taucht. Millionen und Abermillionen sind ertrunken, sind innerlich zugrunde gegangen. Was überlebt, das zögert, ob es zum Leben, das heißt zum Glauben, wieder erwachen soll. So zögert der entwurzelte Baum, der nur mit wenigen Wurzeln noch an der Erde hängt, mit neuen Trieben. So zögert die von der Sturmflut durchwühlte Wiese, ob sie sich noch einmal begrünen soll. Wir sind befangen in tiefen Zweifeln. Es geht uns wie Menschen nach einem Erdbeben: wir mißtrauen selbst dem Boden, auf dem wir stehen. Sogar die Festigkeit der Mauern, die wir neu erbauen, erscheint uns fragwürdig.« (Heinrich Hauser, a.a.O., S. 275.)
Erster Band (1925), zehntes Kapitel, zitiert nach S. 292 der 636.–640. Auflage (1941).
In: Bibliographie Alfons Paquet (1958), S. 177.
Alfons Paquet, Städte, Landschaften und ewige Bewegung (1927).
Vgl. Paquets Skizze zu einem Selbstbildnis (1925), S. 18.
Alfons Paquet, Fahnen (1923) und Sturmflut (1926).
Alfons Paquet, Die neuen Ringe. Reden und Aufsätze zur deutschen Gegenwart (1924) und Antwort des Rheines. Eine Ideologie (1928).
Egon Erwin Kisch, Über Alfons Paquet (1928).
Alfons Paquet, Skizze zu einem Selbstbildnis (1925), S. 18.
Die Mission des Schriftstellers ist demnach die Erkenntnis des Geistes in der und durch die Natur: »Der naturforschende Mensch blieb in Wirklichkeit der Begleiter des höheren, geistgesandten, deutete ihm tausendfach die Welt und empfing von ihm die schönsten Deutungen. Ich fühlte unermeßliche Jugend im Stolz eines hohen Dienstes, empfand mich pflanzenhaft als Trieb am Wachstum eines freudigen Deutschland zwischen Geist und Natur in der Mitte.« (Skizze zu einem Selbstbildnis (1925), S. 18.
Ebd., S. 20.
Karl Korn, Alfons Paquet (1988), S. 114ff.
Alfons Paquet, Städte, Landschaften und ewige Bewegung (1928), S. 12f. — Paquet hat dieses Bekenntnis jeweils leicht abgewandelt in verschiedenen Schriften wiederholt; so in der Skizze zu einem Selbstbildnis (1925), S. 10f., Antwort des Rheines (1928), S. 260f. (dort findet sich auch das Zitat, das die Überschrift dieses Kapitels bildet) und am Ende der in diesem Kapitel besprochenen Serie Und Berlin? (1934).
Eine noch klarere Absage findet sich in Paquets Buch Antwort des Rheines (1928) in einem Kapitel mit der Überschrift Stadtvolk (S. 260ff:): »Da das deutsche Volk im wesentlichen ein Stadtvolk ist und das flache Land immer mehr nur ein Atmungsraum der Städte, so komme ich hier nicht mit ländlich bäuerischen Vorstellungen an das Leben; alles, was ich den Bauern sagen könnte, wäre: industrialisiert euch, vergärtnert eure Betriebe. Arbeiter, die ihr von den giftigen und zum Teil überflüssigen Fabriken genug habt, tragt eure Arbeitsmethoden und euer Werkystem auf das Land, klammert euch an den Boden und bringt, was da noch im sechzehnten oder siebzehnten Jahrhundert schlummert, zum Erwachen!«
Alfons Paquet, Die Stabilisierung Berlins (1924); Das Problem Berlin (1928); City und Provinz (1929).
Alfons Paquet, Das Problem Berlin (1928).
Aus Paquets Serie Und Berlin? zitiere ich im folgenden nach der 1934 erschienenen Buchfassung. Die römische Ziffer gibt die Folge bzw. das Kapitel an, die arabische die Seitenzahl.
Alfons Paquet, Das Problem Berlin (1928).
Ebd.; ausführlicher in City und Provinz (1929).
Ebd.
Ebd. — Vgl. auch das Kapitel Städtebau und europäische Bedeutung in Paquets Buch Antwort des Rheines (1928), S. 171ff.
Aus einem Brief Paquets vom 17. Februar 1933, zitiert nach Inge Jens: Dichter zwischen rechts und links (1971), S. 189.
Ebd., S. 212.
Der Abstand des Autors zur herrschenden Ideologie ist schon dadurch klargestellt, daß das Wort ›Nationalsozialismus‹ nicht vorkommt, auch wenn von ihm die Rede ist. Paquet vermeidet alle durch die gleichgeschaltete Presse in Umlauf gebrachten Wörter. Während die Propaganda der Bevölkerung eintrommelt, eine revolutionäre Veränderung habe stattgefunden, spricht Paquets Text von der Hoffnung auf eine noch ausstehende »Wandlung« (I,7) und von der »Angst, daß der rechte Augenblick zu einem gänzlichen Neuaufbau versäumt werden könnte.« (IV, 39). Alles warte auf den versprochenen Aufschwung. Die Stadt sei »zum Teil verödet, zum Teil Ruine« (I,9), was gebaut werde, seien »Anstreicher[!]Sachen mit Reichszuschuß« (I, 7). Die offizielle Erklärung für alle Übel stellt der Erzähler in Frage: »Das ist nicht nur Auswirkung von Versailles, hier ist auch sonst was nicht in Ordnung. Früher hat man naiv die Großstadt Berlin bewundert mit ihrer Wendigkeit, ihrem Tempo, ihren Einfällen, ihren Schaufenstern. Im selben Atem schimpfte man über den Wasserkopf Berlin. Berlin lachte darüber, es war ja nicht unterzukriegen. Heute hört man keine Witze mehr, man spürt ein Frösteln auf der Haut.« (I,8)
»Diese Siedlungen«, schrieb Heinrich Mann, »verwirklichen innerhalb der Gesellschaft wie sie ist, schon manches aus einer künftigen.« (Berliner Siedlungen, zit. n. der Sammlung Das öffentliche Leben (1932), S. 176)
»Deine alten Beziehungen sind verschwunden? Mag sein. Aber das bedeutet doch gar nichts, es sind eben überall neue Leute da, auch diese Leute haben Ideen und einen glühenden Willen. In den Amtern wird vielleicht noch stürmischer und verbissener gearbeitet als früher.« (I,7)
»Wie stark doch unsere Zeit an eine Epoche vor etwa zweitausend Jahren erinnert, als die Menschen der alten Welt einen Gottgesandten erwarteten. Viele meinten, nur ein Cäsar könnte der Gottgesandte sein.« (IV, 36)
Vgl. Hans Norbert Burkert u. a. [Hg.], »Machtergreifung« Berlin 1933 (1982), S. 131ff.
Alfons Paquet, Antwort des Rheines (1928), S. 43.
Ebd., S. 33f.
Alfons Paquet, Skizze zu einem Selbstbildnis (1925), S. 9.
Ebd.
»Geistig stecken wir in einer Sackgasse. Wir haben schon von einigen Syptomen gesprochen, die bis in die sonst unfaßbaren Vorgänge im Leben der Kirchen und Sekten hineinreichen [Paquet spielt auf Gebete für die Regierung an (IV, 36)]. Das Tempo dieser Stadt, das Aufgekratzte an ihr, das war nichts Endgültiges. Dahinter liegt, schon beinahe vergessen, der Übergang aus dem nüchternen, tüchtigen Altpreußentum zu der Großmannssucht, dem Zynismus des Neuberlinertums der Gründerzeit, liegt das darauf folgende Hochgefühl der Weltbeziehungen, das die solide Erfahrung, das Historische, Gewordene der alten Reichsstädte im Westen und im Süden Deutschlands weit hinter sich ließ. Dann nach dem Krieg, dieses Losstürmen in eine neue Epoche, ein Losstürmen mit hohlem Bauch, verbunden mit einem leichten Schwindelgefühl, einem fatalen Gefühl der Unsicherheit, des Experimentierens. Und jetzt die Angst, daß der rechte Augenblick zu einem gänzlichen Neuaufbau versäumt werden könnte.« (IV, 39)
Alfons Paquet, Antwort des Rheines (1928), S. 30f.
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Bienert, M. (1992). Krise und Mentalität. In: Die Eingebildete Metropole. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03405-2_6
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