Zusammenfassung
Als »kleine Expedition, die vielleicht abenteuerlicher als eine Filmreise nach Afrika ist«, kündigt Siegfried Kracauer sein 1930 erschienenes Buch Die Angestellten an, das die Leser »ins Innere der modernen Großstadt« führen soll[1]. Im Jahr zuvor war die Studie als Artikelserie in der Frankfurter Zeitung erschienen. Durch den Vergleich mit einem Expeditionsreisenden ordnet sich Kracauer einem Trend in der zeitgenössischen Literatur ein, und er knüpft an eine historisch weit zurückzuverfolgende Tradition der Stadtbeschreibungsliteratur an. Den Trend hat er, wie seine literaturkritischen Arbeiten zeigen, Anfang der dreißiger Jahre aufmerksam beobachtet und unter dem Titel Reisen, nüchtern im Literaturblatt der Frankfurter Zeitung Mitte 1932 bilanziert. Parallel zur ausufernden Reiseliteratur sei eine Literaturgattung entstanden, »deren einzelne Werke in einem übertragenen Sinn ebenfalls Reisebeschreibungen sind. Nur daß die Reisen, denen sie sich widmen, in umgekehrter Richtung vonstatten gehen. Diese Expeditionen ziehen nicht nach Afrika oder Asien aus, sondern erforschen das von uns bewohnte Terrain; sie wenden uns nicht den Rücken zu, sondern verfolgen die Aufklärung des gesellschaftlichen Seins, das unser Tun und Denken bedingt. Kurz, es handelt sich um jene soziologische Literatur, die immer mehr in Aufnahme zu kommen scheint […] Soziologische Expeditionen — sie sind wie die geographischen Entdeckungsfahrten in die neue Wirklichkeit. Aber darüber hinaus haben sie das Ziel, alle Expeditionsteilnehmer zur Veränderung dieser Wirklichkeit zu aktivieren.«[2]
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Anmerkungen
Siegfried Kracauer, Die Angestellen (1930), S. 15.
Siegfried Kracauer, Reisen, nüchtern (1932). Ernst Glaesers Sammlung Fazit (1929) war der erste Versuch, die von Kracauer registrierte Tendenz an Beispielen aus der deutschen Publizistik auszuweisen. Sie macht sich nicht nur in der Beschreibungsliteratur bemerkbar, sondern auch in den Romanen der dreißiger Jahre und selbst in der Lyrik. »Die soziale Not [ist] das vorherrschende Thema, und den großen technischen Errungenschaften steht man oft mit Gleichmut oder mit einer überlegenen, wenn auch schwer erkämpften Ironie gegenüber«, heißt es im Vorwort der Herausgeber Robert Seitz und Hans Zucker zur 1931 erschienenen Lyrik-Anthologie Um uns die Stadt.
Karl Kraus, Heine und die Folgen (1911), S. 295.
Ebd., S. 294.
Siegfried Kracauer, Die Angestellten (1930), S. 15f.
Ebd., S. 7f.
Eckhardt Köhn, Straßenrausch (1989). — Ergänzungen zu dieser Arbeit, die den historischen Überblick komplettieren helfen, finden sich in Michael Geislers Buch über Die literarische Reportage in Deutschland (1982) und in Rüdiger Severins Spuren des Flaneurs in deutschsprchiger Prosa (1988).
Köhn, a.a.O., S. 17–26.
Zum Beispiel Friedrich Saß, Berlin in seiner neuesten Zeit und Entwicklung (1946) und Ernst Dronke, Berlin (1847).
Angestrebt wird also weder literaturhistorische Vollständigkeit, noch werden die unersetzlichen Berichte derjenigen berücksichtigt, die in den Elendsquartieren der zwanziger Jahre einheimisch waren.
Eike Geisel, Im Scheunenviertel (1981).
Hermann Ullmann, Los von Berlin? (1932), S. 13.
Ebd., S. 22.
Viktor Auburtin, Schranken (1921).
Walter Benjamin, Berliner Kindheit (1972), S. 287. — Robert Walsers Prosastück Die kleine Berlinerin (1909) beschreibt die Stadtwahrnehmung eines Kindes aus reichem Hause aus dessen Perspektive: »Papa sagt, die Klasse, in welcher das Elend herrscht, lebe im Norden der Stadt. Welch eine Stadt. Was ist das: Der Norden?« (Zit. n.: Walser, Gesammelte Werke (1978), Bd. 1, S. 313)
Walter Benjamin, Ein Außenseiter macht sich bemerkbar (1930), Zit. n.: Gesammelte Schriften Bd. III (1972), S. 224f.
Fred Hildenbrandt, Sieben Adressen, in: Tageblätter (1926), S. 99 und 106.
Ebd., S. 109.
Bernard von Brentano, Whnungen (1928/29), zit. n. Glaeser, Fazit (1929), S. 79.
Ebd., S. 81.
Ebd., S. 86.
Ebd.
Franz Hessel, Spazieren in Berlin (1929), S. 220.
Ebd., S. 9.
Franz Hessel, Vorschule des Journalismus (1929), S. 101f.
Kisch, Unter den Obdachlosen von Whitechapel (1925), zit. n.: Gesammelte Werke (5. Aufl., 1986), Bd. 5, S. 12.
George F. Salmony, Mit 50 Pfg. in der Tasche durch Berlin (1927).
Ebd., S. 89.
Ebd., S. 92.
Siegfried Kracauer, Über Arbeitsnachweise (1930), S. 52.
Joseph Roth, Schluß mit der ›Neuen Sachlichkeit‹ (1930), S. 247. — Die auf die bürgerlichen Kollegen gemünzte Reportagekritik von Roth und Kracauer kann nicht ohne weiteres auf die Berichte von Einheimischen angewandt werden. Ein Beispiel dafür sind Hardy Worms Bilder aus dem »dunklen« Berlin. In ihnen werden die Eindrücke scheinbar beziehungslos aneinandergereiht. Auch Worm stilisiert sich zum »sensationshungrigen Reporter« (S. 12), der Berlin photographisch aufzeichnet. Doch gereicht seinen Texten gerade der Mangel an künstlerischer Gestaltung zum Vorteil: Sie zwängen das Beobachtete nicht in ein ästhetisches Arrangement, sondern reproduzieren die Wahrnehmung eines Einheimischen. Die Stadt und ihre Menschen sind für ihn kein willkürlich figurierbares, mit Bedeutungen belehnbares Material. Worm ist im Berliner Norden aufgewachsen. Straßennamen lösen Kindheitserinnerungen aus, Häuser, Elendsquartiere und Kaschemmen beschreibt er aus der Perspektive ihrer Bewohner. Die Eindrücke folgen, obwohl es zunächst so scheint, einander weder beliebig noch zufällig: Die Ortskenntnis und die innige Vertrautheit des Autors mit seinem Milieu schlagen sich in einer Darstellung nieder, die dem Beschriebenen nicht äußerlich bleibt, sondern immerhin Rückschlüsse zuläßt auf die Wahrnehmung der Einheimischen. (Hardy Worm, Mittenmang durch Berlin (1981)).
Joseph Roth, Schluß mit der ›Neuen Sachlichkeit‹ (1930), S. 248.
Ebd., S. 250.
Ebd., S. 250.
Roths Text beginnt mit dem langen Zitat eines amtlichen Schrifstücks, das den Insassen des Asyls Strafe für den Fall androht, daß sie sich innerhalb von fünf Tagen keine Wohnung verschaffen. Das Zitat dient dazu, den Unmut der Obdachlosen nachvollziehbar zu machen, und es gibt selbst den Stoff ab fur einen beißenden Kommentar: »Beweist nicht eher die Geschicklichkeit, sich nach fünf Tagen heutzutage in Berlin eine Wohnung zu beschaffen, Reife fürs Gefängnis?« (Bei den Heimatlosen (1920), S. 95.)
Ebd.
Ebd., S. 97.
Ebd., S. 96.
»Er [Roth] bedient sich […] dem Film abgeschauter Techniken, bricht das Kontinuum der Realzeit auf und fugt das Räumlich Disparate zu einer neuen Simultaneität zusammen. Die Montage, die er simuliert, erzeugt eine neue, den Gegenstand eigentlich erst kontituierende räumlich-zeitliche Einheit, an der sich nun nicht mehr vorbeisehen läßt.« Karl Prümm, Die Stadt der Reporter und Kinogänger (1988), S. 92.
Joseph Roth, Der Zug der Fünftausend (1924), S. 21.
Ebd., S. 22.
Siegfried Kracauer, Der heutige Film und sein Publikum (1928), zit. n.: Das Ornament der Masse (1963), S. 304.
Siegfried Kracauer,(1930), S. 16.
Ebd., S. 56.
Ebd., S. 109. — Freilich blieb Kracauers Radikalität so wirkungslos wie jene. Wenigstens dem Wordaut seines Buches nach war er davon überzeugt, daß radikale Aufklärung über die gesellschaftliche Situation letztlich zwingend zu deren Veränderung fuhren müsse. Diese Überzeugung aber, wenn sie denn je wirklich bestand und nicht nur mit Rücksicht auf den öffentlichen Charakter seiner Äußerungen ausgesprochen war, stellten Kracauers Erkenntnisse selbst zunehmend in Frage. Kracauer kann es nicht entgangen sein, daß sich eine Kluft auftat zwischen seinen entmutigenden Erkenntnissen über die Bewußtseinslage der Massen und der Absicht, sie durch Erkenntnisse zu verändern. Nach dem Angestelltenbuch, bedingt auch durch die politische Entwicklung zwischen 1929 und 1933, muß sich seine Furcht verstärkt haben, mit seinem Konzept radikaler Aufklärung nicht nur eine bewußte Außenseiterstellung einzunehmen, sondern bereits auf verlorenem Posten zu stehen. Einige Belege dafür finden sich im nächsten Kapitel.
Theodor W. Adorno, Der wunderliche Realist (1964), S. 389f.
Kracauer, Die Angestellten, S. 68.
Siegfried Kracauer, Aus dem Fenster gesehen (1931), S. 41.
Siegfried Kracauer, Über Arbeitsnachweise (1930), S. 52.
Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt (1981). 50a Walter Benjamin: Das Passagen-Werk (1982), S. 46, S. 570–611.
Inka Mülder, Siegfried Kracauer (1985), S. 87f.
Georg Simmel, Soziologie (1908), S. 467. — Über das Verfahren, Gesetzlichkeiten durch Analogien aufzuweisen, schreibt Kracauer in seinem Aufsatz über Georg Simmel, es stelle das einzelne Faktum als Verkörperung einer Gesetzlichkeit dar, die nicht an jenem selbst angeschaut werde. Analogiebildung sei ein reflexiver Akt, ein Herstellen von Beziehungen zwischen Phänomenen auf der Grundlage theoretischer Einsicht. (Siehe: Das Ornament der Masse (1963), S.221ff.) Mit Analogien beginnt und endet auch der erste, auf das methodische Exposé des Textes Über Arbeitsnachweise folgende Abschnitt: »Wie die Arbeitslosenunterstützung zum Arbeitslohn, so verhält sich der Arbeitsnachweis zum regelrechten Büro. Er liegt gewöhnlich ungünstiger als der normale Arbeitsplatz, man merkt dem Raum an, daß er von der Gesellschaft notgedrungen den Freigesetzten eingeräumt worden ist.« (S. 52)
Kracauer, Über Arbeitsnachweise (1930), S. 52.
Ebd.
Ebd., S. 52.
Ebd., S. 53.
Ebd., S. 53
Ebd., S. 53.
Ebd., S. 59.
Vgl. Patrick H. Hutton: Die Geschichte der Mentalitäten. Eine andere Landkarte der Kulturgeschichte (1981).
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Bienert, M. (1992). Soziologische Expeditionen. In: Die Eingebildete Metropole. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03405-2_5
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