Zusammenfassung
Daß Goethes größte Bildbeschreibungen — die Stoff, Form und Gehalt unter klassizistischen Bildvorstellungen integrierende Polygnot-Rekonstruktion und die die Grenzen des Klassischen neu ausmessende Philostrat-Galerie — nicht tatsächlich existierende, sondern für immer der Anschauung entzogene Bilder sprachlich zu vergegenwärtigen versuchen, verweist auf das spannungsvolle Verhältnis von Sprache und Anschauung in Goethes Denken. Wie es eine »falsche Vorstellung« ist, »daß man ein Phänomen durch Kalkül oder durch Worte abtun und beseitigen könne«, [1] so kann es in Goethes Sicht erst recht nicht das Ziel einer Bildbeschreibung sein, ein sprachliches Surrogat für das anschaubare Kunstwerk zu geben; es ist in der Beschäftigung mit den bildenden Künsten kein Ersatz für die lebendige Anschauung denkbar, worauf bereits die Propyläen-Einleitung insistierte:
Um von Kunstwerken eigentlich und mit wahrem Nutzen für sich und andere zu sprechen, sollte es freilich nur in Gegenwart derselben geschehen. Alles kommt aufs Anschauen an, es kommt darauf an, daß bei dem Worte, wodurch man ein Kunstwerk zu erläutern hofft, das Bestimmteste gedacht werde, weil sonst gar nichts gedacht wird. [2]
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Anmerkungen
Mit diesem Programm stehen die Propyläen freilich nicht allein; Fiorillos Kunstgeschichte etwa, die ebenfalls im Jahre 1798 zu erscheinen beginnt, verweist systematisch in ihren Anmerkungen auf die besten Kupferstiche zu den besprochenen Werken. Vgl. J. D. Fiorillo: Geschichte der zeichnenden Künste von ihrer Wiederauflebung bis auf die neuesten Zeiten. Erster Band die Geschichte der Römischen und Florentinischen Schule enthaltend. Göttingen 1798.
Vgl. besonders Eduard Firmenich-Richartz: Sulpiz und Melchior Boisserée als Kunstsammler. Ein Beitrag zur Geschichte der Romantik. Jena 1916;
Richard Benz: Goethe und die romantische Kunst. München o.J. [1940], S. 191–206;
Georg Poensgen: Die Begegnung mit der Sammlung Boisserée in Heidelberg. In: Goethe und Heidelberg. Hg. von der Direktion des Kurpfälzischen Museums. Heidelberg 1949, S. 145–195;
Adolf Bach: Aus Goethes rheinischem Lebensraum. Menschen und Begebenheiten. Neuss 1968, S. 549–562;
Friedrich Strack: Das Palais Sickingen-Boisserée und seine Bewohner. In: Heidelberger Jahrbücher XXV (1981), S. 123–146.
So Pyritz in gewohnter ideologischer Verbohrtheit: »[…] da findet er im Haus am Karlsplatz eine Welt der Farben, die seine klassizistischen Überzeugungen aus den Angeln hebt, die ihn beschämt, bestürzt und beseligt, und aus der ihm der heiße Atem einer jugendlichen Epoche entgegenschlägt.« Hans Pyritz: Humanität und Leidenschaft. Goethes gegenklassische Wandlung 1814/1815. I. Teil: Voraussetzungen. In: ders.: Goethe-Studien. Hg. von Ilse Pyritz. Köln/Graz 1962, S. 175. Das erste Zitat S. 176.
Einen guten Überblick über die Bilder, die Sulpiz Boisserée selbst als die repräsentativsten der Sammlung angesehen hat, gibt sein Tagebuchbericht über die Präsentation der Gemälde beim Besuch von Kaiser Franz I. in Heidelberg am 12. Juni 1815; Sulpiz Boisserée: Tagebücher 1808–1854. Im Auftrag der Stadt Köln hg. von Hans-J. Weitz. Bd. 1. 1808–1823. Darmstadt 1978, S. 187ff. (Im folgenden mit der Sigle BTB zitiert.)
BBW I, S. 310. Friedrich und Dorothea Schlegel hatten schon im Herbst 1812 erbittert konstatiert, daß im eben erschienenen 2. Buch von Dichtung und Wahrheit Goethe zwar Boisse-rées Bemühungen um die altdeutsche Kunst gelobt, Schlegel dabei aber völlig unerwähnt gelassen hatte. Vgl. dazu Josef Körner: Romantiker und Klassiker. Die Brüder Schlegel in ihren Beziehungen zu Schiller und Goethe. Berlin 1924, S. 187ff.
Die Folge der Europa-Aufsätze wird zitiert nach der Ausgabe: Friedrich Schlegel: Gemälde alter Meister. Mit Kommentar und Nachwort von Hans Eichner und Norma Lelless. Darmstadt 1984, S. 15.
Ebd., S. 81. Natürlich entfalten sich in Schlegels Kunstverständnis Wackenrodersche Impulse: »Gewiß ist, daß Schlegel Anfang Mai 1803, also während der Arbeit am ersten Heft des zweiten Bandes der Europa, aus Paris bei seinem Verleger Wilmans jeweils zwei Exemplare der Herzensergießungen und der Phantasien über die Kunst sowie sechs Exemplare des Sternbald anforderte.« Richard Littlejohns: Die Madonna von Pommersfelden. Geschichte einer romantischen Begeisterung. In: Aurora 45 (1985), S. 163–188, hier S. 179.
Vgl. die Einleitung von Hans Eichner zu: Friedrich Schlegel: Ansichten und Ideen von der christlichen Kunst. Paderborn/München/Wien 1959 (= Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. 1. Abt. Bd. 4.), S. XXIX.
Briefe von und an Friedrich und Dorothea Schlegel. Gesammelt und erläutert durch Josef Körner. Berlin 1926, S. 222. Körner identifiziert die von Schlegel genannten Bilder nicht in seinem Kommentar.
Rainer Budde: Köln und seine Maler. 1300–1500. Köln 1986, S. 45.
Vgl. BTB, S. 22 f.; Ernst Behler: Friedrich Schlegel in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. 3. Auflage. Reinbek 1978, S. 94f.
Friedrich Schlegel: Lessings Geist aus seinen Schriften. In: ders.: Kritische Schriften. Hg. von Wolfdietrich Rasch. 3. Auflage. München 1971, S. 417.
BTB, S. 23. Zu Schlegels Winckelmann-Rezeption vgl. Tadeusz Namowicz: Die aufklärerische Utopie. Rezeption der Griechenauffassung J. J. Winckelmanns um 1800 in Deutschland. Warszawa 1978, S. 137–170.
Deutsches Museum. Hg. von Friedrich Schlegel. Zweyter Band. Wien 1812, S. 369–397; Dritter Band. Wien 1813, S. 265–295. Auszüge aus Amalie von Helvigs Brief an Friedrich Schlegel vom 30. 12. 1813, in dem sie das Ausbleiben der dritten Sendung motiviert, in: Briefe an Friedrich Schlegel. Hg. von Heinrich Finke. Köln 1917, S. 62.
Museum II, S. 370. Wie charakteristisch die im folgenden beschriebene Bildauffassung der Helvig für die romantische Rezeption des Marientods ist, zeigt Löhneysens — ohne Nennung der Helvigschen Beschreibung gefälltes — Urteil, das Bild sei »gerade recht« gewesen, »die neue Erlebnisweise der Romantik und damit des früheren neunzehnten Jahrhunderts festzuhalten. Und bei allen Beschreibungen […] ist immer der erste Ansatz das menschliche Miterleben des Bildvorgangs und das Eindringen nicht in die künstlerische Substanz, sondern in die Ausdrucksweise der Dargestellten als ein Nachempfinden des Künstlererlebnisses.« Hans-Wolfgang von Löhneysen: Die ältere niederländische Malerei. Künstler und Kritiker. Eisenach/Kassel 1956, S. 398.
Romantische Versuche, in der Malerei Unendlichkeit durch eine Angleichung des Gemäldes an den Realitätsgrad seiner Umgebung darzustellen, untersucht Jörg Traeger am Beispiel Runges; Jörg Traeger: Das Ideale und das Reale. Philipp Otto Runges Bedeutung für die Kunst des 20. Jahrhunderts. In: Wege zur Kunst und zum Menschen. Festschrift für Heinrich Lützeler zum 85. Geburtstag. Hg. von Frank-Lothar Kroll. Bonn 1987, S. 359–370; bes. S. 368.
Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Hg. von Fritz Bergemann. Frankfurt 1981, S. 379. (21. 3. 1830)
Herbert von Einem: Deutsche Malerei des Klassizismus und der Romantik. 1760 bis 1840. München 1978, S. 72.
»Trotz ständiger Seitenblicke auf Goethe und der gebotenen Vorsicht, daß man den ›alten Heiden‹ nur mit der ästhetischen und pragmatischen Seite der Sammlung und Ausstellung konfrontiert, geht es den Brüdern Boisserée nicht nur um eine Erneuerung des Geschmacks, um einen Ersatz der am Griechenideal gewonnenen Schönheitsvorstellung. Zugleich liegt alles an der Wiederherstellung der umfassenden Wirkung auch des christlichen Inhalts.« Annemarie Gethmann-Siefert: Die Sammlung Boisserée in Heidelberg. Anspruch und Wirkung. In: Friedrich Strack (Hg.): Heidelberg im säkularen Umbruch. Traditionsbewußtsein und Kulturpolitik um 1800. Stuttgart 1987 (= Deutscher Idealismus. Bd. 12), S. 394–422; hier S. 404.
Bernd Growe erörtert eine parallele Problematik am Beispiel von Max Raphaels Detailanalysen formalen Bildaufbaus in: Max Raphael: Bild-Beschreibung. Natur, Raum und Geschichte in der Kunst. Hg. von Hans-Jürgen Heinrichs unter Mitarbeit und versehen mit einem Nachwort von Bernd Growe. Frankfurt/M. und New York 1987, bes. S. 453 f. und Frömmelnden also. Günter Niggl hat aber darauf hingewiesen, daß Goethe gerade im Umgang mit den Brüdern Boisserée mit »fromm« deren »Verwandtschaft mit dem kindlichreligiösen Geist des Mittelalters« positiv bezeichnet. Günter Niggl: »Fromm« bei Goethe. Eine Wortmonographie. Tübingen 1967, S. 218. (Die hier zitierte Tagebuchstelle nicht bei Niggl.) Bereits in seinem Brief an Reinhard vom 25. Januar 1813 rühmt Goethe Boisserées »reinen frommen Sinn.« Goethe und Reinhard (wie Anm. 34), S. 198.
Vgl. Alte Pinakothek München. Erläuterungen zu den ausgestellten Gemälden. München 1983, S. 343 ff.
Norbert Miller: Goethes Begegnung mit Jakob Philipp Hackert. Der Jahreszeiten-Zyklus des Malers und die »Landschaft nach der Natur« als klassizistisches Programm. In: Die Vier Jahreszeiten im 18. Jahrhundert. Colloquium der Arbeitsstelle 18. Jahrhundert. Gesamthochschule Wuppertal. Universität Münster. Heidelberg 1986, S. 185–224; hier S. 190.
»We do not explain pictures: we explain remarks about pictures — or rather, we explain pictures only in so far as we have considered them under some verbal description or specification.« So die Ausgangsthese von Michael Baxandall: Patterns of Intention. On the Historical Explanation of Pictures. New Haven/London 1985, S. 1. Da andererseits die Beschreibung nicht das Bild selbst wiedergibt, sondern die gedankliche Umsetzung der Bildwahrnehmung des Betrachters, läßt sich die These so zuspitzen: »We explain the picture as pointed up by a selective verbal description which is primarily a representation of our thoughts about it.« (S. 10)
BA 18, 493 (Nr. 105). Zur Einordnung des Zitats in Goethes Geschichtsdenken vgl. Friedrich Meinecke: Die Entstehung des Historismus. 2. Auflage. München 1946, S. 550f.
Zum Begriff grundlegend Adolf Beck: Der »Geist der Reinheit« und die »Idee des Reinen«. Deutsches und Frühgriechisches in Goethes Humanitätsideal. In: Adolf Beck: Forschung und Deutung. Ausgewählte Aufsätze zur Literatur. Hrsg. von Ulrich Fülleborn. Frankfurt/ Bonn 1966, S. 69–118. Beck begrenzt seine Untersuchungen zum dichterischen Werk auf Iphigenie und Wanderjahre. Er charakterisiert das »Reine« »als Urwort, als Leitstern über dem sittlichen und geistigen Dasein der Weimarer Jahre« und als »bedeutsames Zeichen klassischer Gesinnung« (S. 69).
BA 2, 451. Zum Bezug des Xenions auf Meyer vgl. das in seiner trostlosen Munterkeit insgesamt wenig ergiebige Buch von Wolfgang Pfeiffer-Belli: Goethes Kunstmeyer und seine Welt. Zürich/Stuttgart 1959, S. 57.
Das gigantische Unternehmen Seroux dAgincourts hat in den fachgeschichtlichen Darstellungen bis heute keine dem Werk auch nur annähernd angemessene Würdigung erfahren; vgl. etwa die äußerst mageren Bemerkungen bei Udo Kultermann: Geschichte der Kunstgeschichte. Der Weg einer Wissenschaft. Wien/Düsseldorf 1966, S. 152 f.
Götz Pochat: Geschichte der Ästhetik und Kunsttheorie. Von der Antike bis zum 19. Jahrhundert. Köln 1986, S. 537.
Vgl. etwa Goethes Aufsatz Die Externsteine (1824); BA 20, 358.
BBW II, S. 102. Die letzte Bemerkung bezieht sich auf die Überlagerung der eigenen Anschauung durch die Reproduktionen bis dahin unbekannter Kunstwerke; Abbildungen Bois-seréescher Bilder bringt das Werk, das sich im wesentlichen auf den italienischen Raum beschränkt, selbstverständlich nicht. — Zum Thema vgl. auch Philipp Schweinfurth: Goethe und Seroux dAgincourt. In: Revue de littérature comparée 12 (1932), S. 623–630. Schweinfurth geht zwar vom Heidelberger Bericht aus, untersucht aber paradoxerweise die Bedeutung dAgincourts gerade für diesen Text nicht.
Herbert von Einem: Goethe-Studien. München 1972, S. 85.
Vgl. Wanda Kampmann: Goethes Kunsttheorie nach der italienischen Reise. In: Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft 15 (1929), S. 203–217, bes. S. 212 f.
Wie Klaus Ziegler es für Goethes Geschichtsschreibung generell behauptet; Klaus Ziegler: Zu Goethes Deutung der Geschichte. In: DVjs 30 (1956), S. 232–267; hier S. 245.
Insofern trifft für die byzantinische Kunst auch nicht der Begriff des »repräsentativen Symbols« zu. »Das repräsentative Symbol wird oft von Goethe mit dem Typischen schlechthin identifiziert. So nennt Goethe die Kunst der Antike und die der Renaissance vor allem deshalb symbolisch, weil sie das allgemein und typisch Menschliche darstellen.« Bengt Algot Sørensen: Symbol und Symbolismus in den ästhetischen Theorien des 18. Jahrhunderts und der deutschen Romantik. Kopenhagen 1963, S. 118 f.
Wilhelm und Caroline Humboldt in ihren Briefen. Hg. von Anna von Sydow. Bd. 4. Federn und Schwerter in den Freiheitskriegen. Briefe von 1812–1815. Berlin 1910, S. 199f.
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Osterkamp, E. (1991). Klassische und romantische Bildauffassung. Goethes Beschreibung der Heiligen Veronika und die frühe Rezeption der Boisseréeschen Sammlung. In: Im Buchstabenbilde. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03364-2_7
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