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Klassizistische Vergegenwärtigung der Antike. Goethes Rekonstruktion von Polygnots Gemälden in der Lesche zu Delphi

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Im Buchstabenbilde

Zusammenfassung

Das Problem der sprachlichen Vergegenwärtigung von Bildern gewann für Goethe erneut an Aktualität durch die kunstpädagogischen Intentionen, denen die Weimarer Kunstfreunde mit der Gründung der Propyläen und der Ausschreibung von Preisaufgaben für bildende Künstler (seit 1799) folgten. An dieser Stelle verschärfte sich das Beschreibungsproblem nicht so sehr durch die wachsende Zahl an Kunstwerken, deren Vorstellung, Kommentierung und Bewertung nach leicht praktikablen und durchgängige Überprüfbarkeit gewährleistenden Beschreibungsverfahren verlangten, sondern vor allem durch die Leitidee, daß Künstler und Kunstfreunde sich »so wenig als möglich vom klassischen Boden entfernen« sollten. [1] Denn die Rückbindung der aktuellen Kunstproduktion ans Vorbild der griechischen Antike machte nun nicht mehr nur die sprachliche Reproduktion an fremdem Orte befindlicher Kunstwerke, sondern auch die deskriptive Neuschöpfung jener zerstörten oder verschollenen Meisterwerke erforderlich, die selbst nur noch in Form sprachlicher Überlieferung existieren. Damit tritt neben die Beschreibung als Medium sprachlich reproduzierender Vergegenwärtigung, als Instanz der Kunstkritik und als Erinnerungsträger, wie sie bisher im Werk Goethes und Meyers begegnet war, ein Beschreibungsverfahren, das selbst in struktureller Analogie zu künstlerischer Produktivität steht. Die Umsetzung antiker Beschreibungen und Beschreibungsfragmente in integrale Bildvorstellungen, die anstelle der nicht überlieferten Kunstwerke zur Vorlage künstlerischer Nachahmung zu werden vermögen, kann sich nicht am Geschaffenen entlangbewegen, sondern vollführt notwendig zuvor einen eigenen künstlerischen Schöpfungsprozeß; sie simuliert gleichsam das Kunstwerk, das sie zu beschreiben unternimmt.

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Anmerkungen

  1. Vgl. Peter Werner: Pompeji und die Wanddekorationen der Goethezeit. München 1970;

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  2. Erhard Hirsch: Pompeji und Herculaneum in der Dessauer Nachschöpfung. In: Pompeji 79 — 1979. Beiträge zum Vesuvausbruch und seiner Nachwirkung. Stendal 1982 (= Beiträge der Winckelmann-Gesellschaft. Bd. 11), S. 109–119; Denise Kaspar: Felix Urbium Restitutio — »Le Antichità di Ercolano« zwischen Museum und Öffentlichkeit. In: Herbert Beck et al. (Hrsg.): Antikensammlungen im 18. Jahrhundert (= Frankfurter Forschungen zur Kunst. Bd.9), S. 21–31.

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  3. Johann Joachim Winckelmann: Geschichte der Kunst des Alterthums. Dresden 1764, S. 263. Wie prekär der Kenntnisstand antiker Malerei zu Winckelmanns Zeit ist, zeigt nichts so deutlich wie dies Kapitel: Winckelmann weiß nur von einem Dutzend antiker Gemälde in Rom; die »antiken« Bilder, die er am eingehendsten würdigt, sind bekanntlich Fälschungen von Mengs und Casanova.

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  4. Vgl. dazu jetzt Norbert Miller: Winckelmann und der Griechenstreit. Überlegungen zur Historisierung der Antiken-Anschauung im 18. Jahrhundert. In: Thomas W Gaehtgens (Hrsg.): Johann Joachim Winckelmann. 1717–1768. Hamburg 1986 (= Studien zum achtzehnten Jahrhundert. Bd. 7), S. 239–264, hier S. 256 ff.

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  5. Zur Sache vgl. Eberhard Paul: Gefälschte Antike. Von der Renaissance bis zur Gegenwart. Wien und München 1982, S. 111 ff. Paul nennt das Bild »eine typische Fälschung des Klassizismus, die dem Antikengeschmack ihrer Zeit und ihrer bedeutendsten Vertreter entsprochen hat.« (S. 113)

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  6. Im Gespräch mit Böttiger am 16. 1. 1799; zitiert nach: Ernst Grumach: Goethe und die Antike. Eine Sammlung. Berlin 1949, Bd. 2, S. 655. Das Bild sei »mit Leichtigkeit und Leichtsinn auf die Wand gemalt«, so schreibt Goethe am 17. 10. 1797 an Cotta; BA 15, 461.

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  7. Vgl. Willy Handrick: Die »Aldobrandinische Hochzeit«. Kopie eines antiken Gemäldes in Goethes Kunstsammlung. In: Goethe 25 (1963), S. 154.

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  8. Max Wegner: Goethes Anschauung antiker Kunst. Berlin 1944, S. 120.

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  9. So Ernst Meyer in der Einleitung zu seiner Übersetzung des Pausanias: Beschreibung Griechenlands. Neu übersetzt, mit einer Einleitung und erklärenden Anmerkungen versehen von Ernst Meyer. Zweite, ergänzte Auflage. Zürich und Stuttgart 1967, S. 46. Nach dieser Ausgabe wird auch im folgenden zitiert. Zum Vergleich herangezogen wird: Pausanias’s Description of Greece. Translated with a Commentary by J. G. Frazer. Vol. I. Translation. New York 1965. Des weiteren wurden der griechische Text und dessen Übersetzung benutzt, die Carl Robert seinen Rekonstruktionsversuchen vorangestellt hat; Carl Robert: Die Nekyia des Polygnot. Halle a. S. 1892 (= 16. Hallisches Winckelmannsprogramm);

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  10. Carl Robert: Die Iliupersis des Polygnot. Halle a. S. 1893 (= 17. Hallisches Winckelmannsprogramm).

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  11. Zur Kritik an Roberts Rekonstruktion vgl. jetzt auch den neuesten Rekonstruktionsvorschlag: Mark D. Stansbury — O’Donnell: Polygnotos’s Iliupersis: A New Reconstruction. In: American Journal of Archaeology. Vol. 93 (1989), S. 203–215.

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  12. »In seinen großen Bildbeschreibungen fällt peinlich auf, wie sehr die Fähigkeit des Zusammenfassens fehlt.« Paul Friedländer: Johannes von Gaza und Paulus Silentiarius. Kunstbeschreibungen justinianischer Zeit. Leipzig und Berlin 1912, S. 45.

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  13. »Der Beschränktheit unserer Erkenntnismittel mögen wir uns bewußt bleiben: wie Weniges und Dürftiges über alles eigentlich Künstlerische, auch nur das Elementarste, die Figurenmotive, bietet uns doch Pausanias gegenüber dem, was seine Beschreibung, unsere erste Quelle, verschweigt.« Emanuel Löwy: Polygnot. Ein Buch von griechischer Malerei. Wien 1929, S. 51. Vgl. auch die aufschlußreiche Charakterisierung von Pausanias’ Beschreibungsverfahren bei Robert, Nekyia (wie Anm. 29), S. 28: »Das einzige, was für Pausanias massgebend ist, […] ist das stilistische Gefühl und ist die Rücksicht auf den λóγoς, der sich an diese oder jene Einzelheit anknüpfen lässt; […] die Bildwerke […] sind für ihn nur das Substrat des rhetorischen Excurses.«

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  14. Deshalb haben die Beschreibungen des Pausanias auch nicht die Künstler der Renaissance zu Nachahmungen angeregt — ganz anders als die Ekphrasen Philostrats oder gar Lukians; vgl. hierzu Michaela J. Marek: Ekphrasis und Herrscherallegorie. Antike Bildbeschreibungen bei Tizian und Leonardo. Worms 1985 (= Römische Studien der Bibliotheca Hertziana. Bd. 3).

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  15. Erwin Panofsky: Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst. In: ders.: Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft. Hrsg. von Hariolf Oberer und Egon Verheyen. Berlin 1964, S. 88.

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  16. BA 19, 408. — Dies schließt keineswegs grundsätzlich die Anwendung der Rubriken auf antike Gemälde aus. Heinrich Meyer etwa steuert 1810 zu Böttigers altertumskundlicher Untersuchung der Aldobrandinischen Hochzeit seine Abhandlung Die Aldobrandinische Hochzeit von Seiten der Kunst betrachtet bei, in der er das Gemälde nach Erfindung, Anordnung, Zeichnung, Ausdruck, Colorit, Beleuchtung, Falten schematisiert. Freilich finden die Autoren sich im Falle dieses Gemäldes auch »geneigt, die Zeit seiner Entstehung […] bis in das Augustinische Zeitalter hinauf zu rücken.« Vgl. Die Aldobrandinische Hochzeit. Eine archäologische Ausdeutung von C. A. Böttiger. Nebst einer Abhandlung über dies Gemälde von Seiten der Kunst betrachtet, von H. Meyer. Dresden 1810, S. 11. Meyers Abhandlung ebd., S. 173–206. — Goethe hat sich zu diesem Text seines engsten Kunstfreundes mit keinem Wort geäußert — ob aus Animosität gegenüber Böttiger oder weil ihm der schematische Umgang mit dem Bild verfehlt erschien, muß offen bleiben.

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  17. BA 19, 409. Vgl. hierzu auch den Hinweis auf bisher unveröffentlichte Vorarbeiten von H. Meyer, die ebenfalls die Wichtigkeit der »Vasengemählde« herausstellen, in: Horst Nahler: Goethes Aufsatz über Polygnot. In: Goethe. Bd. 28 (1966), S. 93–105, hier S. 98 f.

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  18. Wilhelm Tischbein: Collection of Engravings from Ancient Vases […] in the Possession of Sir W. Hamilton, Neapel 1790–95; nur ein Heft einer deutschen Übersetzung erschien 1797 in Weimar unter dem Titel Umrisse griechischer Gemälde auf antiken, in den Jahren 1789 und 1790 in Campanien und Sizilien ausgegrabenen Gefäßen.

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  19. Vgl. hierzu Robert, Nekyia (wie Anm. 29), S. 34f., und, Robert folgend, Karl Bapp: Aus Goethes griechischer Gedankenwelt. Goethe und Heraklit nebst Studien über des Dichters Beteiligung an der Altertumswissenschaft. Leipzig 1921, S. 62 ff. Erst Robert hat 1892 endgültig mit dem Reihenprinzip gebrochen.

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  20. BA 19, 400. Vgl. zu Goethes Begriff des Poetischen in seiner Wahrnehmung antiker Kunst auch Wolfgang Schadewaldts Nachwort zu Grumachs Quellensammlung (wie Anm. 13), S. 1002 ff. Ebenso in Wolfgang Schadewaldt: Goethestudien. Natur und Altertum. Zürich/Stuttgart 1963, S. 63 ff.

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  21. Heinrich Meyer: Über die Gegenstände der bildenden Kunst. In: ders.: Kleine Schriften zur Kunst. Heilbronn 1886 (= Deutsche Litteraturdenkmale. Bd. 25), S. 20.

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  22. Vgl. BA 19, 279ff. Zu den wenig befriedigenden Ergebnissen vgl. Walther Scheidig: Goethes Preisaufgaben für bildende Künstler 1799–1805. Weimar 1958 (= Schriften der Goethe-Gesellschaft. Bd. 57), S. 33–64 und Abb. 1–3.

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  23. Auf die Bedeutung von Goethes Beschäftigung mit Polygnot für Einzelzüge des Helena-Aktes hat 1897 erstmals Emil Szanto in seinem Aufsatz Zur Helena im »Faust« aufmerksam gemacht. Wiederabgedruckt in: Emil Szanto: Ausgewählte Abhandlungen. Hg. von Heinrich Swoboda. Tübingen 1906, S. 361–366.

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  24. Walther Rehm: Der Todesgedanke in der deutschen Dichtung vom Mittelalter bis zur Romantik. Halle a.S. 1928, S. 333.

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  25. Vgl. Gerhart Rodenwaldt: Goethes Besuch im Museum Maffeianum zu Verona. Berlin 1942 (= 102. Winckelmannsprogramm der Archäologischen Gesellschaft zu Berlin), S. 24.

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  26. BA 1, 221. Zum Todesbild des klassischen Goethe vgl. auch Franz Koch: Goethes Stellung zu Tod und Unsterblichkeit. Weimar 1932 (= Schriften der Goethe-Gesellschaft. Bd. 45), bes. S. 218 ff.

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Osterkamp, E. (1991). Klassizistische Vergegenwärtigung der Antike. Goethes Rekonstruktion von Polygnots Gemälden in der Lesche zu Delphi. In: Im Buchstabenbilde. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03364-2_5

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  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-03364-2_5

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