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Der theoretische Blick. Johann Heinrich Meyers tabellarische Bildbeschreibungen und Goethes Aufzeichnungen

Zur Erinnerung des Städelschen Kabinetts

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Im Buchstabenbilde
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Zusammenfassung

Mit der Besprechung des Stichs Schwerins Tod ruhte Goethes Beschäftigung mit bildender Kunst nahezu vier Jahre lang völlig. Erst 1795 nimmt er seine Untersuchungen wieder auf: zunächst mit Studien zur Baukunst, dann mit der grundlegenden Abhandlung über den Laokoon, schließlich mit den weit ausgreifenden Forschungen für das geplante Italienbuch, deren Resultate in die Aufsätze der Propyläen Eingang finden. In den Jahren von 1791 bis 1795 dagegen widmet Goethe sich mit ganzer Energie seinen naturwissenschaftlichen Studien: vor allem den Untersuchungen zur Farbenlehre und zur Metamorphose der Pflanzen. Seine Insistenz auf einer — von der Kantschen Erkenntniskritik ungebrochenen — Unmittelbarkeit in der Naturbeobachtung, die Goethe noch spät als seinen »hartnäckigen Realismus« [1] bezeichnet, führte dabei zu jener Strukturierung der — vorgeblich unmittelbaren — Wahrnehmung von Natur, deren höchst vermitteltes Resultat die bekannte Anekdote von Goethes erster Bekanntschaft mit Schiller festhält. Konfrontiert mit Goethes Beobachtungen zum Wirken der Natur, vor allem mit deren krönendem Abschluß im Entwurf einer Urpflanze, insistiert Schiller: »Das ist keine Erfahrung, das ist eine Idee.« [2] Über mehr als zwei Jahrzehnte hinweg ist Goethes Bericht die Irritation anzumerken, die Schillers Bemerkung bei ihm hervorgerufen hatte. Denn tatsächlich ist ja das Konzept der Urpflanze nicht, wie Goethe behauptet hatte, das Ergebnis einer den Sinnen vertrauenden Naturbeobachtung, sondern das Resultat gedanklicher Operationen, einer »alten Grille« [3] oder, wie es in einem Brief an Herder aus Neapel heißt: »Die Urpflanze wird das wunderlichste Geschöpf von der Welt, um welches mich die Natur selbst beneiden soll.«[4]

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Anmerkungen

  1. Vgl. dazu Alfred Schmidt: Goethes herrlich leuchtende Natur. Philosophische Studie zur deutschen Spätaufklärung. München 1984, S. 36.

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  2. Goethes Briefwechsel mit Wilhelm und Alexander v. Humboldt. Hrsg. von Ludwig Geiger. Berlin 1909, S. 11 f. Vgl. noch die späte Maxime: »Die Erscheinung ist vom Beobachter nicht losgelöst, vielmehr in die Individualität desselben verschlungen und verwickelt.« (Nr. 1224) BA 18, 654.

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  3. Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe. Hrsg. von Emil Staiger. Frankfurt/M. 1977, S. 643.

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  4. Gottfried Benn: Goethe und die Naturwissenschaften. In: Hans Mayer (Hrsg.): Goethe im XX. Jahrhundert. Spiegelungen und Deutungen. Hamburg 1967, S. 409. (Erstdruck 1942)

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  5. BA 19, 180. — An den hier geäußerten Einsichten hat Goethe zeitlebens festgehalten; nur geringfügig umformuliert finden sie sich in einer Gesprächsnotiz, die Kanzler von Müller am 24. 4. 1819 festhält: »Dann sprach er von der Kunst zu sehen. Man erblickt nur, was Man schon weiß und versteht. Oft sieht Man lange Jahre nicht, was reifere Kenntniß und Bildung nun an dem täglich vor uns liegenden Gegenstand erst gewahren läßt.« Kanzler von Müller: Unterhaltungen mit Goethe. Kritische Ausgabe von Ernst Grumach. Weimar 1956, S. 35. Auf die Bedeutung der Maxime »Was man weiß, sieht man erst!« für die Landschaftswahrnehmung in den Wahlverwandtschaften hat Theodore Ziolkowski aufmerksam gemacht; Theodore Ziolkowski: Die Natur als Nachahmung der Kunst bei Goethe. In: Wissen aus Erfahrungen. Werkbegriff und Interpretation heute. Festschrift für Herman Meyer zum 65. Geburtstag. Hg. von Alexander von Bormann. Tübingen 1976, S. 242–255, bes. S. 245 ff.

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  6. Der Psychologe Julian Hochberg spricht vom »Auge des Geistes«; Julian Hochberg: Die Darstellung von Dingen und Menschen. In: Ernst H. Gombrich/Julian Hochberg/Max Black: Kunst, Wahrnehmung, Wirklichkeit. 2. Auflage. Frankfurt 1981, S. 84.

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  7. Lionardo da Vinci: Das Buch von der Malerei. Deutsche Ausgabe nach dem Codex Vaticanus 1270. Übersetzt und unter Beibehalt der Haupteintheilung übersichtlicher geordnet von Heinrich Ludwig. Wien 1882 (= Quellenschriften für Kunstgeschichte. Bd. XVIII), S. 70.

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  8. André Félibien: LTdée du Peintre parfait. London 1707. (= Reprographischer Nachdruck Genève 1970.)

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  9. Roger de Piles: Cours de Peinture par Principes. Paris 1708.

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  10. Zur inhaltlichen Füllung der Begriffe und zu den Unterschieden im Begriffsverständnis bei Félibien vgl. Thomas Puttfarken: Roger de Piles’ Theory of Art. New Haven/London 1985; besonders Kapitel III Rhetoric and Painting, S. 57–79.

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  11. Goethes Briefwechsel mit Heinrich Meyer. Hrsg. von Max Hecker. Bd. 1. Weimar 1917 (= Schriften der Goethe-Gesellschaft. Bd. 32), S. 402. Der Briefwechsel, dessen zweiter Band 1919 und dessen dritter Band 1922 erschienen ist, wird künftig unter Angabe von Band und Seitenzahl mit der Sigle GMB zitiert.

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  12. Vgl. etwa Otto Harnack: Deutsches Kunstleben in Rom. Weimar 1896;

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  13. Friedrich Noack: Deutsches Leben in Rom. Stuttgart/Berlin 1907.

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  14. Wilhelm Waetzoldt: Deutsche Kunsthistoriker. Von Sandrart bis Rumohr. Leipzig 1921, S. 90.

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  15. Raphael Mengs’ Gedanken über die Schönheit und über den Geschmack in der Malerei. Mit einem Vorwort hrsg. von Hermann Heller. Leipzig o. J. [1875], S. 37. — Zu Mengs’ Kunsttheorie vgl. jetzt vor allem Monika Sutter: Die kunsttheoretischen Begriffe des Malerphilosophen Anton Raphael Mengs. Versuch einer Begriffserläuterung im Zusammenhang mit der geistesgeschichtlichen Situation Europas bis hin zu Kant. Phil. Diss. München 1968. Zu den »Theilen der Malerei«, freilich wenig ergiebig, S. 157ff. Eine Erläuterung der normativen Inhalte der einzelnen Kategorien gibt die nach wie vor nützliche Dissertation von Ulrich Christoffel: Der schriftliche Nachlaß des Anton Raphael Mengs. Ein Beitrag zur Erklärung des Kunstempfindens im spätem 18. Jahrhundert. Basel 1918, vor allem S. 35 ff.

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  16. Nichts über die Mengsschen Kategorien bei Dieter Honisch: Anton Raphael Mengs und die Bildform des Frühklassizismus. Recklinghausen 1965.

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  17. Kurt Gerstenberg: Johann Joachim Winckelmann und Anton Raphael Mengs. Halle (Saale) 1929 (= 27. Hallisches Winckelmannsprogramm), S. 26.

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  18. Dies haben auch seine Verehrer gesehen, und selbst Heinrich Meyer schließt sich dem Verdikt über »die allgemeine Anordnung seiner Bilder« an; vgl. seinen Entwurf einer Kunstgeschichte des 18. Jahrhunderts in: Johann Wolfgang Goethe: Winckelmann und sein Jahrhundert in Briefen und Aufsätzen. Mit einer Einleitung und einem erläuternden Register von Helmut Holtzhauer. Leipzig 1969, S. 160.

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  19. Wenige Jahre später formuliert Meyer noch schärfer: »[…] die Übereinstimmung des Ganzen wird gewöhnlich vermißt und den Köpfen mangelt der belebte ergreifende Ausdruck.« Zu dieser Stelle notiert Meyer am Rande des Manuskripts: »NB Statuenhaft.« Johann Heinrich Meyer: Geschichte der Kunst. Bearbeitet und hrsg. von Helmut Holtzhauer und Reiner Schlichting. Weimar 1974 (= Schriften der Goethe-Gesellschaft. Bd. 60), S. 297, 378.

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  20. Vgl. dazu Joachim Dyck: Ticht-Kunst. Deutsche Barockpoetik und rhetorische Tradition. 2. Auflage. Bad Homburg v.d.H./Berlin/Zürich 1969, S. 67.

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  21. Johann Joachim Winckelmann: Geschichte der Kunst des Alterthums. Dresden 1764, S. 167.

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  22. »Neuerlich lese ich die Schriften des verstorbenen Mengs und da lernt man sich bescheiden, daß eigentlich Niemand als ein solcher Künstler über die Kunst reden sollte. Sie sind in allem Betracht vortrefflich und gereichen mir zu rechtem Trost, da ich so vieles, was bisher bei mir nur Stückwerk war, verbinden, und meine Erkenntniß der vortrefflichen Sachen immer recht schärffen kann.« Goethe an Knebel, 26. 2. 1782; Briefwechsel zwischen Goethe und Knebel. (1774–1832.) Erster Theil. Leipzig 1851, S. 26. — Goethe las damals die 1780 erschienene Ausgabe von Azara, die sich noch in seiner Bibliothek befindet. Vgl. Hans Ruppert: Goethes Bibliothek. Katalog. Weimar 1958, Nr. 2415.

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  23. Johann Wolfgang Goethe: Briefe aus Italien. 1786–1788. Hrsg. und erläutert von Peter Goldammer. München 1982, S. 130.

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  24. Es wird, so weit ich sehe, in Goethes Gesamtwerk nicht erwähnt. Wenn Goethe sich trotz seiner Verehrung für Correggios Werk mit diesem Bild nicht beschäftigt hat, so spiegelt auch dies ein Urteil von Mengs, der es nicht sehr schätzte: »Es ist aber keines der schöneren Werke Correggio’s, weil Composition und Bekleidung nur geringes Studium verrathen. Kopf und Hände der Madonna sind vortrefflich gemalt, aber nicht so kräftig, wie die übrigen classischen Werke dieses Künstlers.« Anton Raphael Mengs: Anton Allegri’s (Correggio’s ) Leben und Wirken. In: Anton Raphael Mengs’ sämmtliche hinterlassene Schriften. Gesammelt, nach den Originaltexten neu übersetzt und mit mehreren Beilagen und Anmerkungen vermehrt hrsg. von G. Schilling. Bonn 1843, Bd. 1, S. 112. — ie hoch Correggios Bild freilich auch im 18. Jahrhundert geschätzt wurde, zeigt Johann Zoffanys bekannte Darstellung der Tribuna (1778);

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  25. der Mengs-Schüler ordnet das Bild der Tribuna ein, obgleich es dort — wie viele andere Gemälde auf diesem Galeriebild auch — damals nicht gehangen hat. Vgl. Oliver Millar: Zoffany and his Tribuna. London 1966 (= Studies in British Art.);

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  26. Mary Webster: Johan Zoffany. 1733–1810. Ausstellungskatalog National Portrait Gallery 1976, S. 59f.

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  27. Cecil Gould: The Paintings of Correggio. London 1976, S. 92.

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  28. Heinrich Lausberg: Elemente der literarischen Rhetorik. 3., durchgesehene Auflage. München 1967, § 97, S. 43.

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  29. Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste […]. Neue vermehrte zweyte Auflage. Dritter Theil. Leipzig 1793, S. 357.

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  30. Ingrid Kreuzer: Studien zu Winckelmanns Aesthetik. Normativität und historisches Bewußtsein. (Ost-)Berlin 1959, S. 20.

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  31. Erwin Panofsky: Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst. In: Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft. Hrsg. von Hariolf Oberer und Egon Verheyen. Berlin 1964, S. 88.

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  32. Ernst H. Gombrich: Kunst und Fortschritt. Wirkung und Wandlung einer Idee. Köln 1978, S. 15.

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  33. Während des Frankfurter Aufenthalts entstehen auch Goethes Beschreibungen französischer Kupferstiche; BA 19, 145–157. Vgl. auch: Johann Wolfgang Goethe: Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche. Text-Bild-Kommentar. Mit einer Einführung hg. von Klaus H. Kiefer. München 1988, S. 87.

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  34. Hans-Joachim Ziemke: Das Städelsche Kunstinstitut — die Geschichte einer Stiftung. Frankfurt am Main 1980, S. 5.

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  35. Es wird freilich in der Italienischen Reise nicht erwähnt. — Während der Belagerung von Mainz bittet Goethe am 21. 5. 1793 brieflich Bertuch darum, »das bekannte Bild der Muttergottes mit dem Kinde von Correggio’s Composition in ein Kästchen wohlgepackt, an mich zu senden. Ich wünsche es mit einem ähnlichen das sich hier befindet zu vergleichen.« WA IV, 10, 59. Die Vermutung erscheint plausibel, daß es sich hierbei um eine Kopie der Zinga-rella gehandelt hat, die Goethe bei einem — sonst für 1793 nicht bezeugten — Besuch in Städels Kabinett mit dessen Kopie zu vergleichen gedachte. — Eine Reproduktion der Zingarella von Theodor Caspar Fürstenberg (gest. 1675) befindet sich in Goethes Sammlung; vgl. Christian Schuchardt: Goethe’s Kunstsammlungen. Erster Theil. Jena 1848, Nr. 15, S. 4. Dieser Stich gilt als »äußerst selten« (Thieme/Becker XII, S. 564).

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  36. Goethe: Italienische Reise, 1. 5. 1787; BA 14, 464.

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  37. Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung. In: Sämtliche Werke. Hrsg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert. 4. Auflage. Bd. 5. Erzählungen/Theoretische Schriften. München 1967, S. 694.

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  38. Goethe über Hermann und Dorothea im Brief an Meyer vom 5. Dez. 1796; GMB 1, 397.

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  39. Schiller über Hermann und Dorothea im Brief an Goethe vom 4. 3. 1797, Schiller/Goethe: Briefwechsel (wie Anm. 9), S. 363.

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Osterkamp, E. (1991). Der theoretische Blick. Johann Heinrich Meyers tabellarische Bildbeschreibungen und Goethes Aufzeichnungen. In: Im Buchstabenbilde. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03364-2_4

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  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-03364-2_4

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