Zusammenfassung
Als Goethe sich im Frühjahr 1817 mit Friedrich Gottlieb Welckers Schrift Sappho von einem herrschenden Vorurteil befreit auseinandersetzt, kommt er auf seine vierzehn Jahre zuvor entstandene rekonstruierende Beschreibung der Bilder Polygnots in der Lesche zu Delphi zu sprechen: Die Weimarischen Kunstfreunde hätten damals Polygnots Hades-Darstellung »leider nur im Buchstabenbilde« wiedergeben können. [1] Mit Recht stünde dieses Zitat einer Sammlung von Goethes Bildbeschreibungen als resignatives Motto voran. Denn tatsächlich hat zeitlebens Goethe gerade als Kunstfreund das Geschäft der Bildbeschreibung nur verdrossen auf sich genommen. Diesem Autor, der für sich die Anschauung als die primäre Erkenntnisweise bestimmte, konnte wohl kein literarisches Genre weniger gemäß sein als das der Bildbeschreibung, das doch auf der Abstraktion von jenem spezifischen Merkmal der Malerei und der ihr verwandten graphischen Künste beruht, durch das sie sich von allen anderen Künsten — auch der Plastik — unterscheiden: ihrer Nursichtbarkeit, durch die sie sich allein der Anschauung erschließen. Die Beschreibungseuphorie, die periodisch im Abstand von zwei Jahren die Bilderfluten der Salon-Ausstellungen bei Diderot auslösen, der Farb- und Bewegungsrausch, mit dem Heinse in seinen Gemäldebriefen auf das Erlebnis der Rubensschen Bilder antwortet, die detailversessene Kommentierungsakribie, mit der Lichtenberg Hogarths moralgesättigte Bildwelten zu erfassen sucht: all dies findet bei Goethe nicht nur keine Entsprechung, sondern es ist ihm, aus je anderen Gründen, auch unstatthaft erschienen.
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Anmerkungen
Vgl. hierzu jetzt Bernard Dieterle: Erzählte Bilder. Zum narrativen Umgang mit Gemälden. Marburg 1988. (= Artefakt. Schriften zur Soziosemiotik und Komparatistik. Bd. 3.)
Vgl. Erich Trunz: Die Kupferstiche zu den »Lebenden Bildern« in den Wahlverwandtschaften. In: ders.: Weimarer Goethe-Studien. Weimar 1980, S. 203–217.
Dazu die materialreiche, theoretisch freilich unbefriedigende Monographie von Gisbert Kranz: Das Bildgedicht. 2 Bde. Köln/Wien 1981; auch die Textsammlung: Gedichte auf Bilder. Anthologie und Galerie. Hg. von Gisbert Kranz. München 1975.
Ich nenne zum Thema neben den grundlegenden Arbeiten von Herbert von Einem, die er 1972 in seinen Goethe-Studien zusammengestellt hat, vor allem Theodor Hetzer: Goethe und die bildende Kunst. Leipzig 1948;
Paul Menzer: Goethes Ästhetik. Köln 1957 (= Kantstudien. Ergänzungshefte 72.);
Matthijs Jolies: Goethes Kunstanschauung. Bern 1957;
jetzt auch Jutta Van Selm: Zwischen Bild und Text. Goethes Werdegang zum Klassizismus. New York/Bern/Frankfurt a.M. 1986. ( = American University Studies. Vol. 48.)
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Osterkamp, E. (1991). Einführung. In: Im Buchstabenbilde. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03364-2_1
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