Zusammenfassung
Literaturwissenschaftler unterschiedlicher Provenienz stimmen darin überein, daß die Begriffe »Figur« und »Geschehen« unabdingbar sind, um epische und dramatische Werke zu beschreiben und zu interpretieren.1 Probleme entstehen jedoch dadurch, daß die beiden Grundbegriffe häufig sehr abstrakt und unbestimmt gefaßt werden: »Figur« meint dann allgemein die literarische Gestaltung eines menschlichen bzw. menschenähnlichen Wesens; »Geschehen« die Darstellung einer zeitlichen Folge von Ereignissen.2
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Literatur
Wolfgang Kayser, Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft, Bern und München: Francke 51959. S. 34 ff. G. N. Pospelow u.a.: Literaturwissenschaft. Eine Einführung. Leipzig: Bibliographisches Institut 1980, S. 157 ff. Jochen Schulte-Sasse u. Renate Werner, Einführung in die Literaturwissenschaft, München: Fink 1977, S. 137 ff.
Trotz seiner fundamentalen Bedeutung für die neuere Literaturtheorie eignet dem Geschehensbegriff nicht die Würde, in einem literaturwissenschaftlichen oder philosophischen Fachwörterbuch aufgeführt zu sein, ja selbst die Enzyklopädien kennen ihn nicht. Der Geschehensbegriff erhält dadurch etwas sehr Unbestimmtes; ein Eindruck, der sich bestätigt, wenn man sich klarmacht, daß dieser Begriff in der Literaturwissenschaft den verblaßten Geist eines zuvor sehr lebensvollen und konkreten Begriffs repräsentiert, nämlich den der Handlung. Schuld am Rückzug und Tod des Handlungsbegriffs sind ja vor allem die Romanschriftsteller, deren Praxis sich der Erzählforschung nicht entzog. Während Eberhard Lämmert in Anlehnung an Herder den Handlungsbegriff zunächst noch für die Epik zu bewahren scheint, leitet er im folgenden eine Absage an diesen Begriff ein: »Wir haben uns bereits darüber verständigt, daß als allgemeinste Grundlage des Erzählens das Vorhandensein einer Handlung oder, noch vorsichtiger gesagt, eines Geschehensablaufs zu gelten hat.« Und während der Begriff des Geschehens in den »Bauformen des Erzählens« noch konkrete handlungsähnliche Züge bewahrt — die Metapher vom »sich abspinnenden Geschehen« verdeutlicht dies — entleert sich der Begriff zusehends, bis er schließlich nicht mehr meint als die zeitliche Folge von Begebenheiten oder Ereignissen, wie sich dies bei Schulte-Sasse und Werner andeutet. Vgl. Eberhard Lämmert, Bauformen des Erzählens, Stuttgart: Metzler 1955, S. 10, 21, 24. J. Schulte-Sasse u. R. Werner, op. cit., S. 147.
Manfred Pfister, Das Drama. Theorie und Analyse. München: Fink 41984, S. 240 f.
Gustav Freytag, Die Technik des Dramas. Leipzig 31876. Wolfgang Kayser, op. cit., S. 77 ff. E. M. Forster, Ansichten des Romans. Frankfurt: Suhrkamp 1962. Arthur C. Danto, Analytische Philosophie der Geschichte, Frankfurt: Suhrkamp 1974, S. 371 ff.
Richtungsweisend die Beiträge von R. Barthes, A. J. Greimas, C. Bremond, U. Eco, T. Todorov in dem Heft Communications 8/1966. Zusammenfassend: Elisabeth Gülich/Wolfgang Raible, Linguistische Textmodelle. Grundlagen und Möglichkeiten, München: Fink 1977.
Vladimir Propp, Morphologie des Märchens, Frankfurt: Suhrkamp 1975.
Claude Bremond, Die Erzählnachricht, in: Ihwe, J. (Hrsg.), Literaturwissenschaft und Linguistik, Bd. 3, Frankfurt: Athenäum 1972, S. 177–217. Ders.: Logique du récit. Paris 1973. Vgl. zu Bremond: Thomas M. Scheerer/Markus Winkler, Zum Versuch einer universalen Erzählgrammatik bei Claude Bremond. Darstellung, Anwendung und Modellkritik, in: Poetica 8/1976, S. 1–24.
Vgl. E. Lämmert, op. cit., S. 18.
Erich Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern und München: Francke 31964.
Vgl. dagegen V. Propp, op. cit., S. 79 ff. Etienne Souriau, Les Deux Cent Mille Situations Dramatigues, Paris: Flammarion 1950. Algirdas J. Greimas, Strukturale Semantik. Übers. v. J. Ihwe, Braunschweig: Vieweg 1971, S. 157 ff.
Vgl. dazu Propps speziell aufs Zaubermärchen bezogene Funktionen: a (Einem Familienmitglied fehlt irgend etwas, es möchte irgend etwas haben. Definition: Mangelsituation). A (Der böse Gegenspieler fügt einem Familienmitglied einen Schaden oder Verlust zu. Definition: Schädigung). A16 (Der Schädling droht mit gewaltsamer Heirat). Verlust und Bedrohung sind also bei Propp nicht prinzipiell unterschieden.
Das Merkmal (-M1) ist also nicht zu verwechseln mit der Alternative »Erfolg« vs. »Mißerfolg«; denn (-M1) ist außer im »Erfolg« auch gegeben, wenn die Figur den »Mißerfolg« verwindet oder nicht mehr erfährt (vgl. dagegen Bremond, op. cit., 1972, S. 201). Die Merkmalskombination (M1) + (-M1) erinnert deutlich an das Begriffspaar Epitasis (Verwicklung) und Katastrophe (Lösung) der antiken Poetik, das als Opposition von »Komplikation« und »Auflösung« bei Labov/Waletzky und van Dijk und der Forschungsrichtung der story-grammar wiederkehrt. Im Unteschied dazu ist das oppositionelle Merkmalspaar (M1) vs. (-M1) stets auf den gestalteten subjektiven Erfahrungshorizont der einzelnen Figuren bezogen und nicht auf eine Handlung oder Episode allgemein, so daß vom Interpreten zu entscheiden bleibt, was als Bezugspunkt für die »Komplikation« und »Auflösung« anzusehen ist (eine Hauptfigur? eine Interaktion von Figuren? ein Konflikt von Ideen oder Strukturen?). Das hier skizzierte Verfahren erfordert die strenge Einhaltung der jeweiligen Figurenperspektive, also den Bezug auf (M1) als figurenperspektivisch erfahrenen Mangel im Spektrum der oben genannten drei Modi (Verlust, Anreiz, Bedrohung). Wenn Todorov zwischen »Gleichgewichtsstörung« und anfänglichem bzw. neuem »Gleichgewichtszustand« unterscheidet, so ist dieser Gegensatz nicht auf Figuren bezogen, sondern schon immer auf Begriffe wie »Kultur« oder »Natur«. Welche Idee aber mit den Figuren transportiert wird, kann erst geklärt werden, wenn zunächst die Figuren selbst methodisch analysiert worden sind. (Vgl. William Labov/Joshua Waletzky, Erzählungen: Mündliche Versionen persönlicher Erfahrung, in: J. Ihwe (Hrsg.), op. cit., Bd. 2, S. 78–126. Teun A. van Dijk, Textwissenschaft. Eine interdisziplinäre Einführung. Übers. v. C. Sauer, München: dtv 1978, S. 140 ff. Dietrich Boueke/Frieder Schülein, Von der Lehr- und Lernbarkeit des Erzählens, in: Diskussion Deutsch 102/1988, S. 386–403. Tzvetan Todorov, Die strukturelle Analyse der Erzählung, in: J. Ihwe (Hrsg.), op. cit., Bd. 3, S. 265–275).
Vgl. Jörn Stückrath/Albrecht Stoll, Der widerspenstige Proteus. Versuch einer begrifflichen Annäherung an das Komische, in: Der Deutschunterricht 1/1984, S. 40–56.
Bereiche der Mangelerfahrung werden in einem ersten Zugriff auf die hier gestellte Fragestellung vom Verfasser skizziert in: Entwurf eines Kategoriensystems zur Analyse epischer Figuren und Handlungen. Am Beispiel von Sarah Kirschs Erzählung »Blitz aus heiterm Himmel«, in: Bettina Hurrelmann u.a. (Hrsg.), Man müßte ein Mann sein…? Düsseldorf: Schwann 1987, S. 98. Vgl. auch: Ders., Schwierigkeiten beim Beschreiben literarischer Figuren — Ein Versuch strukturalistische und literaturpsychologische Begriffe der Figurenanalyse zu vermitteln, in: Diskussion Deutsch 104/1988, S. 356–373.
Emil Staiger, Grundbegriffe der Poetik, Zürich: Atlantis 31956. Jürgen Link, Das lyrische Gedicht als Paradigma des überstrukturierten Textes, in: H. Brackert/J. Stückrath (Hrsg.), Literaturwissenschaft. Grundkurs 1. Reinbek: Rowohlt 1981, S. 192–219. Gedicht, Erzählung, Ritual vergleichen Elli K. Maranda/Pierre Maranda, Structural Models in Folklore and Transformational Essays, Den Haag 1971.
Günther Müller, Die Gestaltfrage in der Literaturwissenschaft und Goethes Morphologie. Halle 1944, S. 60. Müller nimmt hier eine Formulierung Goethes auf, die sich in dem Brief vom 9. Juni 1786 an Frau von Stein auf das »ungeheure Reich der Pflanzenwelt« bezieht.
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Stückrath, J. (1990). Wovon eigentlich handelt die epische und dramatische Literatur? Kritik und Rekonstruktion der Begriffe »Figur« und »Geschehen«. In: Eggert, H., Profitlich, U., Scherpe, K.R. (eds) Geschichte als Literatur. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03341-3_24
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Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart
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