Zusammenfassung
Das Rahmenthema dieses Symposions, »Geschichte als Literatur«, deutet an, daß »Geschichte« sich auch in anderen Institutionen und Medien verkörpern kann, sagen wir z.B.: als Wissenschaft, als Film, als Kunstwerk … In der Themenformulierung steckt, so gesehen, eine These, deren Verständnis ich fürs erste einmal mit folgenden Worten umschreiben möchte: Der Begriff »Geschichte« bezeichnet eine aus zeitlich zurückliegenden Ereignissen und Daten zusammengesetzte Realität, und diese Realität kann zum Gegenstand von literarischen, wissenschaftlichen, kinematographischen etc. Bearbeitungen gemacht werden. Ist das Resultat gelungen, so erscheint »Geschichte als Literatur«, »Geschichte als Wissenschaft« usf.
Geschichte schreiben heißt also Geschichte zitieren.
Walter Benjamin 1
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Literatur
Gesammelte Schriften, Bd. V/1, hrsg. v. R. Tiedemann, Frankfurt a. M. 1982, S. 595.
Theodor Zwinger: Theatrum humanae vitae, 4 Bde., Basel 1604, Bd. I, S. 1590; zit. nach W. Schulze: Narration und Analyse. Beobachtungen zur Historiographie der Englischen Revolution. In: R. Koselleck et al. (Hrsg.): Formen der Geschichtsschreibung (Theorie der Geschichte 4), München 1982, S. 291.
J. Rüsen: Historische Vernunft. Grundzüge einer Historik I: Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1983, S. 20.
Er bezog diese Formulierung auf Dantes Divina Commedia; vgl.: G. Droysen: Historik, ed. P. Leyh, Stuttgart-Bad Cannstatt 1977, S. 77.
Vgl. auch P. Ricoeur: Geschichte und Wahrheit, Übers, v. R. Leick, München 1974, S. 44. In Ricoeurs frühen geschichtsphilosophischen Betrachtungen finden sich zahlreiche überraschende Übereinstimmungen mit Droysens Theorie.
Droysen: Historik, 67 ff. et pass. -M. Bloch: Apologie pour l’histoire ou métier d’historien, Paris 1949.
Aristoteles: Poetik (Kap. 9), übers. v. M. Fuhrmann, Stuttgart 1982, S. 29 f.
Die entscheidende Passage aus dem 23. Kapitel der Poetik in Manfred Fuhrmanns Übersetzung (s. Anm. 7, S. 77): »Außerdem darf die Zusammenfassung [σύνδεσις der Handlungen im Epos] nicht der von Geschichtswerken gleichen; denn dort wird notwendigerweise nicht eine einzige Handlung, sondern ein bestimmter Zeitabschnitt dargestellt, d.h. alle Ereignisse, die sich in dieser Zeit […] zugetragen haben und die in einem rein zufälligen Verhältnis stehen […], ohne daß sich ein einheitliches Ziel [тέλος] daraus ergäbe«.
Cicero: De oratore II; 15, 62 ff.
In der deutschsprachigen historiographischen Literatur und Rezensionspraxis spielen sprachlich-formale Kriterien eine allenfalls untergründige Rolle. So hat eine von Thomas Milch unter dem Gesichtspunkt literarischer Urteilsbildung durchgeführte Überprüfung der Rezensionen, die im Jahrgang 1988 der Zeitschriften »Geschichte in Wissenschaft und Unterricht« und »Historische Zeitschrift« erschienen sind, eine sehr geringe Ausbeute erbracht. Nur in wenigen Fällen und meist in beiläufigen, auf Nebensätze beschränkten Bemerkungen wird die Lesbarkeit historiographischer Bücher bewertet. Prädikate auf der positiven Seite: »flüssig«, »dicht«, »präzise«, »glänzend«, »spannend«, »fesselnd«, »packend«; auf der negativen Seite: »mühsam«, »widerdeutsch«, »jargonhaft«, »apart«, »essayistisch«. Andererseits werden die Grenzen zwischen wissenschaftlicher und literarischer Prosa in keinem Fall erörternd zur Sprache gebracht.
Bei Friedrich Schlegel lautete der Satz: »Freilich wird alles, was man von der Kunst erfahren hat, erst durch Philosophie zum Wissen.« (Literary Notebooks, Nr. 193) zit. nach Szondi (s. Anm. 12: S. 124).
P. Szondi: Poetik und Geschichtsphilosophie II: Von der normativen zur spekulativen Gattungspoetik. Schellings Gattungspoetik, Frankfurt a. M. 1974, S. 250.
F. W. J. Schelling: Philosophie der Kunst, Darmstadt 1974, S. 281.
Philosophie der Kunst, S. 290; über die »partielle Mythologie« des Romans vgl. ebd. S. 320.
Zu dieser Differenz vergleiche die interessante Fallstudie von A. Hecker: Geschichte als Fiktion. Alfred Döblins »Wallenstein« — eine exemplarische Kritik des Realismus (Epistemata: Reihe Literaturwissenschaft 21), Würzburg 1986.
Historik, S. 418. Jörn Rüsen (s. Anm. 3: S. 58) nimmt diese Formulierung zustimmend auf.
R. Koselleck: »Neuzeit«. Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe. In: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1979, S. 300 ff.
Vgl. dazu D. Harth: Rankes ästhetischer Sinn. In: Literaturmagazin 6: Die Literatur und die Wissenschaften, hrsg. v. N. Born/H. Schlaffer, Reinbek b. Hamburg 1976, S. 58–69; Ders.: Biographie als Weltgeschichte. Die theoretische und ästhetische Konstruktion der historischen Handlungin Droysens »Alexander« und Rankes »Wallenstein«. In: DVjs 54 (1980), S. 58–104.
Die vollkommenen Geschichtswerke, von denen Gervinus träumt, »lehren weniger das Erzählte benutzen als den Erzählern [!] nachstreben, die mit reiner männlicher Gesinnung die Welt beurteilen und mit gesundem Blicke überschauen.« G. G. Gervinus: Schriften zur Literatur, hrsg. v. G. Erler, Berlin 1962, S. 91.
Schriften, S. 99.
Schriften, S. 152 f.
Ähnliche Angriffe finden sich auch bei F. C. Schlosser, der die intendierte Integration von (erzählender) Darstellung und (diskursivem) Urteil allerdings verfehlte. Vgl. zur Stellung Schlossers in der Geschichte der Historiographie M. Gottlob: Geschichtsschreibung zwischen Aufklärung und Historismus. Johannes von Müller und Friedrich Christoph Schlosser, Bern/New York/Paris 1989, S. 205 ff.
Auch Gervinus berief sich auf Humboldt, übernahm aber nur dessen historische Ideenlehre, während Droysen sich an der Methodik der sprachhistorischen Versuche desselben Autors orientierte.
Hier folge ich einem Gedanken Reiner Wiehls, den dieser in einem ganz anderen Kontext entwickelt hat, der aber vorzüglich geeignet ist, die inneren Voraussetzungen von Droysens Gedanken zu erläutern; vgl. R. Wiehl: Form, in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe, hrsg. v. H. Krings et al., Bd. 2, München 1973, S. 452.
Historik, S. 106 u. 107 f.: »Die historische Frage ist ein Ergebnis des ganzen geistigen Inhalts, den wir unbewußt in uns gesammelt und zu einer geistigen Welt subjektiv geformt haben. Sie ist eine Intuition, die sich uns nicht durch Grübeln und Nachdenken ergibt, sondern aus der Totalität unseres Ich hervorspringt, scheinbar unvermittelt, plötzlich, wie von selbst, in der Tat aber aus der ganzen auf diesen Punkt hin gereiften Fülle unseres geistigen Daseins […]. Es ist eben nichts anderes, als was dem Künstler, dem Dichter, dem Denker eben auch so geschieht …«
Vgl. z.B. das 3. Buch von Quintilians Institutio oratoria.
Droysen selbst verglich sie mit der Gerichtsrede: Historik, S. 446.
Vgl. die Stelle, an der Droysen die »Phantasie des Lesenden« als den Ort beschreibt, an dem sich die atmosphärischen Qualitäten der Erzählung »ergänzen und plastisch ausbilden« (Historik, S. 240).
Vgl. Historik, S. 423.
In neueren Theorien wird oft zwischen Analyse und Erzählung unterschieden, während doch beides in der »analytischen Synthese« der Historie vereint ist. Vgl. z.B. J. Kocka: Zurück zur Erzählung? Plädoyer für historische Argumentation. In: Geschichte und Gesellschaft, 10. Jg., 1984, H. 3, S. 395–408.
Vgl. zum antiken Hintergrund: J. Lohmann, Vom ursprünglichen Sinn der aristotelischen Syllogistik. In: Lexis II/2, 1951, S. 205 ff.
Droysen: Historik, S. 322: »wenn der Künstler zum Material seiner Mimesis die Sprache selbst nimmt, so braucht er Wort und Gedanke als Mittel, an ihnen die Empfindung, die ihn innerlich bewegte, auszudrücken, das Unsagbare zu sagen.«
F. D. E. Schleiermacher, Hermeneutik, hrsg. v. H. Kimmerle, Heidelberg 1959, S. 115. Die Hermeneutik, die Schleiermacher als eine Inversion der Rhetorik begreift, sucht gleichwohl nach Möglichkeiten, den »Styl«, und das heißt: die Individualität des Autors zu »verstehen«. Zum Problem vgl. M. Frank, Das individuelle Allgemeine, Textstrukturierung und -interpretation nach Schleiermacher, Frankfurt a.M. 1977, S. 160 ff.
Eine Frage, die in der angelsächsischen Geschichtskritik gang und gäbe ist. Vgl. insbesondere die Untersuchungen von Hayden White: Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth Century Europe. Baltimore & London 1973; Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen: Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, übers. v. B. Brinkmann-Siepmann/T. Siepmann, Stuttgart 1986.
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Harth, D. (1990). Historik und Poetik. Plädoyer für ein gespanntes Verhältnis. In: Eggert, H., Profitlich, U., Scherpe, K.R. (eds) Geschichte als Literatur. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03341-3_2
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