Zusammenfassung
Die Bedeutung des Ersten Weltkriegs für die Geschichte der europäischen Zivilisation ist kaum geklärt; die Urteile schwanken zwischen den Extremen seiner relativen Bedeutungslosigkeit im Verhältnis zu langfristigen Tendenzen (Theweleit) und der Urkatastrophe des Jahrhunderts (G. F. Kennan). In der deutschen Geschichtsschreibung sind Fragen nach dem Verhältnis zwischen Krieg und Zivilisationsgeschichte eher marginalisiert und bleiben, soweit sie überhaupt aufgenommen werden, Gegenstand von Spezialgeschichten1 oder die Domäne von Außenseitern. In der Geschichtsschreibung Frankreichs, Englands und der USA stellt sich ein anderes Bild dar. Vor dem Hintergrund längerer Diskussionen über Begriff und Leistung von Kultur- oder Mentalitätsgeschichte ergab sich eine größere Bereitschaft, den Ersten Weltkrieg jenseits von Fragen der Kriegsschuld und traditioneller militärisch-diplomatischer Geschichte auch in seiner Bedeutung für die Geschichte der modernen Zivilisation und das Selbstbewußtsein des 20. Jahrhunderts zu untersuchen.2
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Literatur
Beispiele liefert eine Aufsatzsammlung, die noch immer eine Ausnahme darstellt: Klaus Vondung (Hg.), Kriegserlebnis. Der Erste Weltkrieg in der literarischen Gestaltung und symbolischen Deutung der Nationen. Göttingen 1980. Unter der spezifischen Perspektive kulturvergleichender Beobachtungen stellt einige Aufsätze zusammen: Bernd Hüppauf (Hg.), Ansichten vom Krieg. Vergleichende Studien zum Ersten Weltkrieg in Literatur und Gesellschaft. Königstein 1984. Eine an den Intentionen einzelner Autoren interessierte Studie bilden die umfangreichen Interpretationen von Hans Harald Müller, Der Krieg und die Schriftsteller. Stuttgart 1986. Der aufschlußreiche Artikel »Krieg« in: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Stuttgart 1971, ist ein Beispiel für den vor allem vom Koselleck theoretisch vertretenen Versuch, die Begriffsgeschichte aus der Tradition von genetischen Untersuchungen zu lösen und mit sozialgeschichtlichen Fragestellungen zu liieren. Der Erste Weltkrieg bleibt jedoch relativ blaß. Jürgen Kockas fundierte Studie: Klassengesellschaft im Krieg. Deutsche Sozialgeschichte 1914–18. Göttingen 1973, bewegt sich bewußt im Feld der strukturellen Sozialgeschichte und schließt Fragen einer Bewußtseinsgeschichte aus. Klaus Theweleit, Männerphantasien. 2 Bd. Frankfurt a. M. 1977, veranschlagt die Rolle des Kriegs für die Mentalitätsgeschichte gering und hat in der Forschung bisher kaum Spuren hinterlassen. Gegenwärtig entstehen einige Dissertationen auf diesem Feld.
Bahnbrechende Arbeiten sind Paul Fussel, The Great War and Modern Memory. New York und London 1975. Eric J. Leed, No Man’s Land. Combat and Identity in World War I. Cambridge 1979. Jean Jacques Becker, 1914. Comment les Français sont entrés dans la guerre. Paris 1977.
Edmund Husserl, Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins. Hg. v. Martin Heidegger. Tübingen 1980, s. 373 f.
Theoretische Probleme einer Historisierung der phänomenologischen Zeitkonstitution, der Beziehung von individueller und kollektiver Erfahrung und des Verhältnisses von Erlebnis, Erfahrung und deren symbolischer Repräsentation müssen aus Raumgründen unbehandelt bleiben.
Husserl, S. 437–441.
Paul Fraisse, Psychologie der Zeit. München 1985. Ernst Pöppel: Grenzen des Bewußtseins. Stuttgart 1985.
Zu dem Thema gibt es eine ausführliche Literatur. Ich stütze mich u. a. auf: Stephen Kern, The Culture of Time and Space. Cambridge 1983.
Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeit. Frankfurt a. M. 1979, S. 134.
Armin Herrmann, Wie die Wissenschaft ihre Unschuld verlor. Stuttgart 1982, S. 90 f.
»Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muß es auch Möglichkeitssinn geben.« Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften. Werke Bd. 1, Reinbek 1979, S. 16.
R. Koselleck, Der Zufall als Motivationsrest in der Geschichtsschreibung, in R. K. (s. Anm. 8) S. 158–175.
Martin Heidegger, Identität und Differenz, Pfullingen 1957, S. 45.
Reinhart Koselleck, Erfahrungswandel und Methodenwechsel. Eine historisch-anthropologische Skizze. In: Historische Methode. Hg. v. Christian Meier und Jörn Rüsen. Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik Bd. 5, München 1988, S. 13–61; S. 47. Zur Mentalitätsgeschichte gibt es in der deutschen Literatur seit kurzem eine Reihe von Überblicken; vgl. u. a. die kenntnis- und materialreichen Aufsätze: Peter Schöttler, Mentalitäten, Ideologien, Diskurse. In: Alf Lüdtke (Hg.), Alltagsgeschichte. Diskussionen und Perspektiven. Frankfurt a. M., New York 1988, und ders., Sozialgeschichtliches Paradigma und historische Diskursanalyse. In: Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Hg. v.J. Fohrmann und H. Müller, Frankfurt a. M. 1988, S. 159–199.
Reinhard Rürup, Der »Geist von 1914« in Deutschland. Kriegsbegeisterung und Ideologisierung des Krieges im Ersten Weltkrieg. In: B. Hüppauf (Hg.), Ansichten vom Krieg. Königstein 1984, S. 1–30.
Gerhard von Schulze-Gävernitz, Zum Freiheitsfrieden. In: Deutsche Politik. Wochenschr. für deutsche Welt- und Kulturpolitik 3, März 1918, S. 358–365.
Rudolf Kjellén, Die Ideen von 1914, Leipzig 1915, S. 43.
Rudolf Smend, Krieg und Kultur. (Durch Kampf zum Frieden. Tübinger Kriegsschriften Heft VIII), Tübingen 1915, S. 10.
Eugen Kühnemann, An die deutsche Jugend im Weltkriegsjahr 1914. Leipzig 1914, S. 13.
Albert Köster, Der Krieg und die Universität. Leipzig 1914, S. 24.
Vgl. u. a. Klaus Schwabe, Wissenschaft und Kriegsmoral. Die deutschen Hochschullehrer und die politischen Grundfragen des Ersten Weltkriegs. Göttingen 1969. Klaus Böhme, (Hg.), Aufrufe und Reden deutscher Professoren im Ersten Weltkrieg. Stuttgart 1975.
Klaus Vondung, Apokalypse in Deutschland. München 1988.
Zur Kritik an Naumann s. Karl Holl, Die mißlungene Synthese von Liberalismus, Nationalismus und christlichem Sozialismus. In: Neue politische Literatur 19, 1974, S. 235.
Friedrich Naumann, Mitteleuropa, Berlin 1915, S. 254–257.
Ebda., S. 19 f.
Ebda., S. 139.
Ebda., S. 130.
Walther Rathenau, Deutschlands Rohstoffversorgung. Berlin 1916, S. 26. In dieser Rede vor der »Deutschen Gesellschaft 1914« spricht er von der Umstellung der deutschen Wirtschaft auf eine planvolle Kriegswirtschaft als einem »Ruhmesblatt«, dem weder England noch Frankreich etwas gleichwertiges an die Seite zu stellen hätten.
Ebda., S. 29.
Ebda., S. 51 f.
Walther Rathenau, Von kommenden Dingen. Berlin 1919.
Friedrich Meinecke, Die deutsche Freiheit. In: Bund deutscher Gelehrter und Künstler (Hg.), Die deutsche Freiheit. Fünf Vorträge. Gotha 1917, S. 14–39.
Nachum Goldmann, Von der weltkulturellen Bedeutung und Aufgabe des Judentums. München 1916.
Karl Joël, Neue Weltkultur. Leipzig 1915, S. 68.
Georg Simmel, Der Krieg und die geistigen Entscheidungen. Reden und Aufsätze. München und Leipzig 1917, S. 25.
Ebda., S. 26.
Ebda., S. 27.
Karl Kraus, Mit der Uhr in der Hand. Die Fackel Nr. 445–453, Januar 1917, S. 150.
Luftaufnahmen wurden unter ästhetischen Gesichtspunkten gelegentlich auch zu Alben für Sammler zusammengestellt.
Wilhelm Worringer, Abstraktion und Einfühlung. München 1908.
Vgl. Gilles Deleuze und Félix Guattari: Anti-Ödipus, Frankfurt a. M. 1977: Wilde, Barbaren, Zivilisierte, S. 177 ff.
Ebda., S. 185.
Oswald Spengler, Der Mensch und die Technik. Berlin 1931, S. 27 f.
Ebda., S. 66 f.
Ebda., S. 79.
Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. München 1959, Vorwort zur ersten Ausgabe, Dezember 1917.
Ebda., S. 399 f.
Ernst Jünger, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt. Stuttgart 1981 (1. Aufl. 1932), S. 169.
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Hüppauf, B. (1990). Der Erste Weltkrieg und die Destruktion von Zeit. In: Eggert, H., Profitlich, U., Scherpe, K.R. (eds) Geschichte als Literatur. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03341-3_18
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