Zusammenfassung
»Zwischen den großen Ereignissen aber ziemt es sich, mit dem Nichts zu sprechen.« (BFA 1,271) Mit diesen Worten eröffnet ein Kaiser jenes merkwürdige Gespräch mit einem Bettler, welches der junge Autor Bertolt Brecht im Herbst 1919 als Einakter niederschrieb. Er gab ihm den Titel Der Bettler oder Der tote Hund. Diese Zwischenzeit, welche die historisch notierbare Zeit anhält, weil sie sie unterbricht, ist eine Zeit des Erzählens. Sieben kleine Geschichten erzählt der Bettler dem Kaiser, der geglaubt hat, mit einem Sieg auf dem Schlachtfeld Geschichte gemacht zu haben, ein heldenhaftes Subjekt der Geschichte zu sein. Bis auf eine, welche nicht zufällig von der Augentäuschung narzißtischer Liebe erzählt (BFA 1,275 f.), handeln alle Geschichten vom Tode. Dieser aber läßt sich erzählen nur unter Zuhilfenahme des Mythos als Geschichte der Kreisläufigkeit eines natürlichen Lebens, das sich im Wechsel der Generationen, aber auch im Wechsel von Regen, Sonne und Wind unendlich wiederholt.
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Anmerkungen
Vgl. dazu: Das Begehren zu schlafen. Eine Antwort Lacans, notiert von Catherine Millot. Der Wunderblock. Zeitschrift für Psychoanalyse 13/1985, S. 3–5. Vgl. auch: Norbert Haas, Unter dem Titel der Realität, in: Jochen Hörisch u. Georg Christoph Tholen (Hrsg.), Eingebildete Texte, München 1985, S. 49–63.
Marianne Schuller, Einige Bemerkungen zu Brechts Komödie »Trommeln in der Nacht«. Programmheft Wuppertaler Bühnen: Trommeln in der Nacht. Spielzeit 1973/74.
Lacan bemerkt zur Psychoanalyse und zur Geschichtswissenschaft: »Von der Psychoanalyse wie von der Geschichtswissenschaft zu behaupten, sie seien als Wissenschaften Theorien des Besonderen, heißt mitnichten, daß die Tatsachen, mit denen sie zu tun haben, rein zufällig oder künstlich induziert sind und daß ihr Wert sich letztlich auf die krude Frage nach dem Trauma reduzieren lasse. Die Ereignisse werden in einer primären Historisierung erzeugt; anders gesagt: die Geschichte ereignet sich bereits auf der Szene, auf der man sie, ist sie erst einmal niedergeschrieben, vor seinem eigenen Innern wie vor den Augen der Außenwelt spielt.« (Jacques Lacan, Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse, in: Jacques Lacan, Schriften I. Ausgew. und hrsg. von Norbert Haas. Olten 1973, S. 71–169; hier: S. 100.)
Vgl. dazu Louis Althusser: »… denn der Text der Geschichte ist kein Text, worin eine Stimme (der Logos) spricht, sondern das unhörbare und unlesbare Sichbemerkbarmachen der Auswirkungen einer Struktur der Strukturen.« (Louis Althusser/Etienne Balibar: Das Kapital lesen I, Reinbek b. Hamburg 1972, S. 17.)
Auch Klaus Völker hat auf Brechts Parodie des bürgerlichen Trauerspiels hingewiesen: Klaus Völker, Brecht-Kommentar. Zum dramatischen Werk, München 1983, S. 81.
Mit dem Walkürenritt beginnt der dritte Aufzug der Oper »Die Walküre« von Richard Wagner, die am 26. Juni 1870 gegen den Willen des Komponisten in München uraufgeführt wurde. Vgl.: Richard Wagner, Die Musikdramen, München 1978, S. 653. Jan Knopf behauptet in seiner Interpretation von Trommeln in der Nacht, daß Brecht lediglich auf den in der Oper verarbeiteten Walküren-Mythos anspiele. (Vgl. dazu: Jan Knopf, Trommeln in der Nacht, in: Walter Hinderer (Hrsg.), Brechts Dramen: neue Interpretationen, Stuttgart 1984, S. 48–66; S. 58 f. M. E. entgeht dem Interpreten der parodistische Effekt gerade der musikalischen Anspielung auf die Wagner-Oper. Denn in der »Glosse für die Bühne« weist der Autor Brecht darauf hin, daß der dritte Akt »Walkürenritt«, »wenn er nicht fliegend und musikalisch wirkt und das Tempo beschwingt, ausgelassen werden« könne (BFA 1,176). Vgl. dazu auch Wagners Szenenanweisung zum dritten Aufzug der Oper: »Einzelne Wolkenzüge jagen, wie vom Sturm getrieben, am Felsensaume vorbei.« (Richard Wagner, Die Walküre, in: Richard Wagner, Die Musikdramen, op. cit., S. 630.
Marianne Schuller, Einige Bemerkungen zu Brechts Komödie »Trommeln in der Nacht«, op. cit.
Vgl. vor allem die Rekurrenz der Himmels-Metapher in »Der Choral vom großen Baal«. Bertolt Brecht, Baal (Fassung 1919) (BFA 1, S. 19–21).
Jürgen Link begreift die Studentenbewegung der 60er Jahre z. T. als Versuch einer Umfunktionierung des »Medien-Interdiskurses mittels kulturrevolutionärer Simulation der Normalitätskultur« (Jürgen Link: Kulturrevolutionäre Strategien und Taktiken — damals und heute. kultuRRevolution 21/1989, S. 30–35; hier: S. 34.
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Kolkenbrock-Netz, J. (1990). Geschichte und Geschichten in Brechts »Trommeln in der Nacht« (1922/53). In: Eggert, H., Profitlich, U., Scherpe, K.R. (eds) Geschichte als Literatur. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03341-3_15
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