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Die Trieblizenz des historischen Erzählens. Am Beispiel von Gotthelfs »Kurt von Koppigen«

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Zusammenfassung

Wie viele der großen bürgerlichen Dichter, die sich unter die Pflicht gestellt sahen, die feste Ordnung zu zeigen, das rechte Leben zu lehren und alle Maß- und Schrankenlosigkeit zu bannen, war Gotthelf von Katastrophen fasziniert. Nicht anders als bei Stifter gewinnt bei ihm das Erzählen seine höchste Gewalt, wo es von der höchsten Gewalt in der Natur handelt. Und wenn C. F. Meyer berichtet, wie der sterbende Gottfried Keller von ausbrechenden Wassern phantasierte, von der großen Überschwemmung, die den zweiten Teil des Salander-Romans abschließen sollte1, muß man daran erinnern, daß Meyer selbst die riskanteste Szene seines literarischen Schaffens, den Bekenntnismoment der inzestuösen Liebe in der Richterin — »Ich begehre die Schwester!« —, an einen Ort der tobenden Gewässer, der »rasenden Flut« versetzt hat.2 Mit einem »furchtbaren Eisgang« und der Überschwemmung der Leopoldstadt endet Grillparzers Erzählung vom Armen Spielmann. Und Stifter, der sich dieser Dichtung nur erwehren konnte, indem er eine Echo-Erzählung dazu schrieb, den Armen Wohltäter (den späteren Kalkstein), gestand die intertextuelle Verknüpfung ein durch die Aufnahme eben dieser Thematik. Zum Spielmann wie zum Wohltäter gehört die Situation, wo sie bis zur Brust in den kalten Wassern der ausgetretenen Flüsse stehen.3 Gotthelf, der mit der Wassernot im Emmental einen der hinreißendsten Tatsachenberichte seines Jahrhunderts geschrieben hat, erlebte das eigene Schreiben als einen Vorgang, der anders nicht denn als ein solcher Ausbruch von Wassergewalt zu begreifen war.

Je vais écrire un roman dont l’action se passera trois siècles avant Jèsus-Christ, car j’éprouve le besoin de sortir du monde moderne, où ma plume s’est trop trempée et qui d’ailleurs me fatigue autant à reproduire qu’il me dégoûte à voir.

(Flaubert am 18. März 1857 an Mlle Leroyer de Chantepie, über »Salammbô«)

Mich beschäftigt etwas Neues, kein ungefährliches Thema. Daß ich es wiederum in alte Zeit (Charlemagne) verlege, hat seinen Grund darin, daß ich für meine etwas großen Gestalten eine geräumige Gegend und wilde Sitten brauche.

(C. F. Meyer am 20. Februar 1884 an Louise von François, über »Die Richterin«)

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Literatur

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  5. Vgl. dazu beispielsweise diese Szene V. 7 der Natürlichen Tochter, Verse 2805–2808.

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  7. Op. cit., Bd. XVII, S. 226.

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  8. Ebd., S. 227.

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  9. Ebd., S. 230 f.

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  10. Ebd., S. 246.

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  11. Es geht hier nicht um eine direkte und so nicht haltbare Parallele zwischen Traum und literarischem Text, aber auch nicht um eine bloß metaphorische Verwendung des Begriffs Traum. Gemeint ist, daß bestimmte literarische Formen für die »latenten Inhalte« des Unbewußten, die Elemente des »Primärprozesses« durchlässiger sind. Sie können diese nicht unmittelbar wiedergeben, neigen aber in besonderer Weise dazu, sie in die ästhetische Bearbeitung aufzunehmen. — Daß die Annäherung an das Wasser resp. das Heranrücken der Gewässer eine hauptsächliche Verzifferung der beweglichen Beziehung des bewußten Ich zum Unbewußten ist, hat C. G. Jung vielfach gezeigt; die Freudsche Wasser-Semantik ist damit grundsätzlich kompatibel.

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  12. Erinnert sei etwa an Virginia Woolfs Orlando und die dortige Beschreibung des Winters zur Shakespeare-Zeit.

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  13. Chapter IV und Chapter VII.

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  14. Vgl. das Kapitel »Einteilung« der »Einleitung« in Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke in zwanzig Bänden, hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. XII, Frankfurt a. M. 1970, S. 133–141.

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  16. Die Terminologie zeigt, wie selbstverständlich die Geschichte der Menschheit als die Entwicklung eines männlichen Subjekts begriffen wird.

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  17. Op. cit., S. 628 ff., vgl. insbesondere die Uhren-Metapher S. 631.

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  18. Zu Beginn des »Vierten Teils« der Vorlesungen (»Die germanische Welt«) stellt Hegel das Modell auf, wonach die Geschichte der germanischen Welt den Ablauf der vorhergehenden welthistorischen Epochen im kleineren wieder reproduziere. Dadurch erhält er die Möglichkeit, innerhalb des Greisenalters wieder eine Kindheit und eine Jünglingszeit zu lokalisieren. Op. cit. S. 417 f.

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  19. Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden, hrsg. von Friedrich Schlechta, Bd. I, München 1966, S. 258 ff.

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  20. Op. cit., S. 347.

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  21. Op. cit., Bd. I, S. 178.

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  22. Die erste Fassung ist im erwähnten Bd. XVII der Sämtlichen Werke im Anhang abgedruckt.

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  23. Op. cit., S. 347.

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  24. Vgl. op. cit. Ergänzungsbd. XII, S. 46 f.

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  25. Op. cit., S. 226.

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  26. Ebd., S. 243 f. Genau besehen ist es grotesk, ein anthropologisches Phänomen wie das Fehlen jeder Gewissensinstanz von einem politischen Ereignis wie dem Tod eines Kaisers abzuleiten. Auf einer psychologisch-zeichenhaften Ebene kann dieser Tod allerdings in Verbindung gesehen werden mit der Mutterherrschaft auf dem Schlößlein Koppigen. Dadurch würde die Differenz zwischen gesetzlicher und gesetzloser Welt charakteristisch für den Unterschied zwischen patriarchaler und matriarchaler Ordnung.

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  27. Op. cit., S. 120–129.

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  28. Walter Muschg, Gotthelf. Die Geheimnisse des Erzählers, München 1931, S. 424. In Walter Muschgs grundlegendem Gotthelf-Buch finden sich, passim, die bis heute treffendsten, inspiriertesten und inspirierendsten Äußerungen zu dieser wenig behandelten Erzählung.

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  29. Op. cit., S. 348.

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  30. Ebd.

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  31. Ebd., S. 357.

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  32. Roland Barthes, Die Lust am Text, Frankfurt a. M. 1986, S. 8.

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Hartmut Eggert Ulrich Profitlich Klaus R. Scherpe

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von Matt, P. (1990). Die Trieblizenz des historischen Erzählens. Am Beispiel von Gotthelfs »Kurt von Koppigen«. In: Eggert, H., Profitlich, U., Scherpe, K.R. (eds) Geschichte als Literatur. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03341-3_14

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