Zusammenfassung
Wenn ich richtig sehe, ist der Raum ein vernachlässigtes Phänomen in der Literaturtheorie und in der Forschungsdebatte um Historiographie und Literatur. Während alle Reflexion über Nähe und Ferne beider Disziplinen das Verhältnis zur Zeit einschließt, weil beiden Geschichtliches als Vergangenes thematisch ist, bleibt der Raum fast unbeachtet, genauer, der Ort, an dem Geschichte stattfand. Der Raum ist zwar bei Droysen als Bedingung der historiographischen »Interpretation« im Rahmen seiner »Methodik«1 berücksichtigt worden und bei Lämmert als »Schauplatz« des epischen Geschehens in den Bauformen des Erzählens2. Wenn seine Bedeutung, im Falle der Historik, nicht nur auf »topographische Anschaulichkeit«, auf »Lokalfarbe«, »örtliche Individualisierung eines historischen Bildes« reduziert werden sollte und, im Falle der Literaturwissenschaft, gerade nicht auf den geographischen Realgehalt, ging es um die Funktion des Raumes für ein erzähltes Geschehen und um den Raum als Objekt literarischer Darstellung. Der Terminus Chronotopos von Michail Bachtin in seinem Aufsatz Zeit und Raum im Roman3 illustriert, in welcher Rücksicht der Raum höchstens Beachtung fand: in Rücksicht auf die zeitlichen Verhältnisse des jeweiligen Geschehens, die an bestimmte Räumlichkeiten gebunden sind. Meine Frage gilt jedoch der Relevanz des literarisch vermittelten Raumes für das Geschichtsbewußtsein des Autors, besser: für das Bewußtwerden; sie gilt dem Erkennen eines Ereignisses in seiner geschichtlichen Dimension, das sich dem Ort verdankt. Voraussetzung dieser Frage ist die Beobachtung, daß historische oder fiktive Orte in der Literatur als Zeugen für Geschichte beansprucht werden.
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Literatur
Johann Gustav Droysen, Historik, hrsg. v. Rudolf Hübner, München 61971, S. 164/5.
Eberhard Lämmert, Bauformen des Erzählens, Stuttgart 1955/1983, S. 28.
Kunst und Literatur 1974/II, Sp. 1161–1191.
Johann Gustav Droysen, Historik, Historisch-kritische Ausgabe v. Peter Leyh, Bd. 1, Stuttgart-Bad Cannstatt 1977, S. 218.
Vgl. Gaston Bachelard, Poetik des Raumes, München 1960, S. 41. — Zur Mnemotechnik in der Antike und der Renaissance, die als Gedächtnisstütze die Verknüpfung von Zu-Behal-tendem mit Bildern und deren architektonisch vorgestellte Verortung empfahl, vgl. Frances A. Yates, The Art of Memory, London 1966.
Am Beispiel der heiligen Stätten in Galilea und Jerusalem erörtert Maurice Halbwachs den Zusammenhang von Raum und Kollektivgedächtnis. Vgl. La topographie légendaire des évangiles en terre sainte. Étude de mémoire collective, Paris 1941. Vgl. Ulrich Raulff, Ortstermine. Literatur über kollektives Gedächtnis und Geschichte; in: Der Merkur 43, 489, 1989, S. 1012–1018. Ich verdanke Herrn Raulff als Beiträger und Teilnehmer des Symposions wichtige Anregungen.
Elisabeth Ströker, Philosophische Untersuchungen zum Raum, Frankfurt/M. 1965.
G. Bachelard, op. cit., S. 40.
Ebd., S. 30. — Vgl. »Die Poetik der Räume«, um die es sich nach Schneider bei Benjamins Berliner Kindheit um Neunzehnhundert handelt. (Manfred Schneider, Die erkaltete Herzschrift. Der autobiographische Text im 20. Jahrhundert, München/Wien 1986, S. 134–142.).
Ebd., S. 29.
Jean Paul, Selberlebensbeschreibung, in Werke, hrsg. v. Norbert Miller, Bd. VI, München 1967, S. 1061.
Christa Wolf, Kindheitsmuster, Berlin u. Weimar 1976, S. 12.
Walter Benjamin, Berliner Kindheit um Neunzehnhundert, Frankfurt/M. 1970, S. 47.
Das Mailänder Lazarett ist durch Manzoni zu einem »lieu de mémoire« Italiens geworden — vergleichbar etwa Charenton oder der Salpêtrière, wenn anders Pierre Nora in seiner bisher vierbändigen Dokumentation auch Krankenanstalten und Irrenhäuser für sein nationales Gedächtnis-Werk geltend machte. (Les lieux de mémoire, Paris 1984, 1986.).
Wolfgang Binder, Friedrich Hölderlin. Der Winkel von Hardt, Lebensalter, Hälfte des Lebens; in: Schweizer Monatshefte 1965, S. 583–591, hier: S. 584.
Vgl. Dieter Henrich, Der Gang des Andenkens. Beobachtungen und Gedanken zu Hölderlins Gedicht, Stuttgart o.J.
J. G. Droysen, op. cit., S. 295.
Siegfried Kracauer, Straßen in Berlin und anderswo, Berlin 1987, S. 17.
Heinz Knobloch, Angehaltener Bahnhof. Fantasiestücke, Spaziergänge in Berlin, Berlin 1985, S. 45.
Ebd., S. 55.
Ebd., S. 51.
Chr. Wolf, op cit., S. 189.
Ein Jahr nach dem Symposium können die Berliner wieder in »Stadtmitte« umsteigen. Die konkreten sichtbaren Anhaltspunkte für Knoblochs Spaziergang sind verschwunden, von der Geschichte überholt. Von heute aus gesehen diente seine literarische Öffnung des verschlossenen Zugangs zum unteren Bahnhofstrakt dem Gedächtnis der Berliner Nachkriegsgesellschaft seit 1961.
Anna Seghers, Zwei Denkmäler, in: Anna Seghers aus Mainz, Textredaktion Walter Heist, Mainz 1973, S. 75.
Ebd., S. 76.
Thomas Bernhard, Der Italiener. Fragment, in: Der Italiener, München 1973, S. 68–77; hier: S. 75.
Ebd., S. 76
Walter Benjamin, Der Erzähler, in: Illuminationen, Frankfurt/M. 1969, S. 425.
Th. Bernhard, op. cit., S. 75.
Um das Wegweisende dieses ortsgebundenen Geschichtsbewußtseins zu kennzeichnen, sei kontrastiv verwiesen auf Giorgio Bassanis Roman Il Giardino dei Finzi-Contini (Turin 1962). Garten und Villa der Finzi-Contini am Corso Ercole I d’Este in Ferrara und das Grabmal auf dem Jüdischen Friedhof sind der Anlaß, von dieser Familie zwischen 1924 und 1943 (dem Jahr der Deportation) zu erzählen. Die Erinnerungen des Erzählers an seine Jugend im Faschismus sind zweifellos ortsfixiert; sie bleiben jedoch melancholisch, wie denn die Perspektive der Hauptpersonen ausdrücklich wie folgt charakterisiert wird: »mit stets rückwärts gewandtem Kopf vorwärts zu gehen.« (Die Gärten der Finzi-Contini, aus d. Italienischen v. Herbert Schlüter, München, Zürich 1984, S. 269).
Th. Bernhard, op. cit., S. 77.
Ebd., S. 76.
Bertolt Brecht, Gedichte, Bd. VII (1948–1956) Berlin und Weimar 1969, S. 34.
Paul Celan, Gesammelte Werke, Bd. I, Frankfurt/M. 1983, S. 197.
Vgl. meinen Aufsatz: Auf der Suche nach dem Erinnerungsort; in: Celan-Jahrbuch 2/1988, S. 7–28.
Vgl. Celans Prosatext: Das Gespräch im Gebirg, op. cit., Bd. III, S. 169–173.
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Bennholdt-Thomsen, A. (1990). Die Bedeutung des Ortes für das literarische Geschichtsbewußtsein. In: Eggert, H., Profitlich, U., Scherpe, K.R. (eds) Geschichte als Literatur. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03341-3_11
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