Zusammenfassung
»Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, dem sich alles unterwerfen muß.«1 Der Historiker, der diesem Satz Kants ernsthaft nachhört, wird bestätigen, daß er nicht nur ein allgemeines Bürgerrecht der nachabsolutistischen Epoche verkündet — das Recht auf Meinungsfreiheit —, sondern daß er auch das spezielle Ethos einer aufgeklärten Wissenschaft ausspricht, das sie seither als ein Leitsatz alles Erkennens und Handelns begleitet. Wenn der Historiker auch sogleich einräumen muß, daß die Verwirklichung solcher allgemeinen Rechte und speziellen Pflichten stets erheblichen und oft genug krassen Einschränkungen unterworfen blieb, so haben seither allein die neuzeitlichen Diktaturen sie planmäßig außer Kraft gesetzt und statt dessen der persönlichen Unfehlbarkeit eines charismatisch erhöhten Diktators oder dem gesetzmäßig sich entfaltenden Willen eines partialen Kollektivs das Vorrecht zugestanden, als Subjekt der Geschichte zu handeln. Die jedermann eingeräumte Fähigkeit zur Kritik angetroffener Verhältnisse und die Gelegenheit zu ihrer freien Äußerung gelten in dem von Kant gemeinten Zeitalter demgegenüber als unumgehbare Vorbedingungen vernünftigen Handelns, in privaten wie in politischen Angelegenheiten und wiederum speziell in der wissenschaftlichen Arbeit. So kann Kant in der Kritik der Urteilskraft auch behaupten, anstelle einer »Wissenschaft des Schönen« könne es »nur Kritik« geben.2
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Anmerkungen
Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernuft, Vorrede (zur ersten Auflage) 1781, S. XI, Anm.
Immanuel Kants Werke. Hg. von Ernst Cassier, Bd 3, Berlin: 1922, S. 7
Immanuel Kants Werke. Hg. von Ernst Cassirer, Bd 5, Berlin: 1922, S. 379.
dt. Übers, von Harriet Wegener: Die Krise des europäischen Geistes, Hamburg: 1939, S. 220.
So der erste Satz von Allan A. Gilbert in seinem Buch: Literary criticism. Detroit: 1962.
Ernst Robert Curtius: Goethe als Kritiker. In: Kritische Essays zur europäischen Literatur. Bern: 1950, S. 32.
Peter Gebhardt: Literarische Kritik. In: Erkenntnis der Literatur. Theorien, Konzepte, Methoden. Hg. von Dietrich Harth und P. G., Stuttgart: 1982, S. 80.
Sigmund von Lempicki: Über literarische Kritik und die Probleme ihrer Erforschung. In: Euphorion 25, 1924, S. 510–517
zit. nach dem Wiederabdruck in: Literaturkritik und literarische Wertung. Hg. von Peter Gebhardt, Darmstadt: 1980 (=Wege der Forschung 334), S. 79.
Werner Milch: Literaturkritik und Literaturgeschichte. Prolegomena zu einer Geschichte der Rezension. In: GRM 18, 1930, S. 1–15
Vgl. dazu u.a. Ernst Bloch: Deutschfrommes Verbot der Kunstkritik (zuerst 1937). In: Literaturkritik und literarische Wertung (Anm. 8), S. 120.
Roland Barthes: Critique et vérité. Paris: 1966, S. 57
hier zit. nach: Kritik und Wahrheit. Übers, von Helmut Scheffel, Frankfurt a.M.: 1967 (= edition suhrkamp 218), S. 68
Norman Foerster: The American Scholar. Chapel Hill: 1929, S. 36
bei Wellek und Warren: Theorie der Literatur (übers. von Edgar und Marlene Lohner), Bad Homburg: 1959, S. 47 u. 48.
Johann Gottfried Herder: Adrastea, 5. Bd (1803), in: Sämmtl. Werke, hg. von Bernhard Suphan, Bd 24, Berlin: 1886, S. 181.
Hermann Kinder: Schweine-Bande. In: Text + Kritik, Bd 100, Über Literaturkritik. München: 1988, S. 30.
Vgl. zu verschiedenen Vorstößen in dieser Richtung Werner Irro: Kritik und Literatur Zur Praxis gegenwärtiger Literaturkritik. Würzburg: 1986, S. 43–49.
Hilde Spiel: Versuch über den deutschen Essay. Dankrede (zur Verleihung des Johann-Heinrich-Merck-Preises für literarische Kritik und Essay von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung), Jahrbuch 1981, S. 67–72.
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Lämmert, E. (1991). Literaturkritik — Praxis der Literaturwissenschaft?. In: Das Überdachte Labyrinth. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03309-3_20
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Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart
Print ISBN: 978-3-476-00694-3
Online ISBN: 978-3-476-03309-3
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