Zusammenfassung
»Literarische Anthropologie« ist ein Ausdruck für einen, vor allem im 18. Jahrhundert denkwürdigen Sachverhalt: die Verbindung von Anthropologie und Literatur als wechselseitige Ermutigung, Reflexion, Kritik. Anthropologie ist die neue, populäre Wissenschaft des 18. Jahrhunderts; sie befaßt sich mit dem »ganzen Menschen« als einem leibseelischen Ensemble; sie will im Gegensatz zu den herrschenden Denktraditionen die alte Aufspaltung von Sinnlichem und Vernunft in ein »commercium mentis et corporis«, eine Verbindung von Leib und Seele, umdeuten; sie kümmert sich auch um das in der bis dahin dominierenden rationalistischen Philosophie Unscheinbare am Menschen, seine »niederen« Seelenvermögen, seine körperliche Konstitution und ihre seelischen Konsequenzen, seine Hinfälligkeit, seine kleinen, intim erfahrenen Lebensbereiche. Darin ist Anthropologie mit der gleichzeitig sich entwickelnden Ästhetik verschwistert, die Subjektivität in ihren konkreten Erscheinungsformen in ihr Recht setzt. Was Wunder, daß Anthropologie sich Unterstützung von den ästhetischen Praktiken erwartet und die Literatur zur Reflexion jener menschlichen Ganzheit ermuntert? Was Wunder, daß Literatur ihrerseits sich als Anthropologie sui generis versteht, nämlich als einen authentischen, durch Selbsterfahrung und Selbstreflexion gewonnenen Aufschluß über die Natur des Menschen?
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Anmerkungen
Magnus Hundt, Anthropologium de hominis dignitate, natura et proprietatibus, de elementis, partibus et membris humani corporis […], Liptzik 1501. Vgl. Odo Marquard, Zur Geschichte des philosophischen Begriffs »Anthropologie« seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts, in: O. M., Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt a. M. 1973, S. 122ff. und 213ff.
Mareta Linden, Untersuchungen zum Anthropologie-Begriff im 18. Jahrhundert, Bern, Frankfurt a. M. 1976, S. 1ff.
Siehe seinen Brief an Prinzessin Elisabeth von der Pfalz (Œuvres, hg. von Ch. Adam, P. Tannery, Paris 1897ff. Bd. III, bes. S. 692) und die daraus hervorgehende späte Abhandlung über »Les passions de l’âme«, Amsterdam, Paris 1649 (die zweisprachige Neuausgabe René Descartes, Les passions de l’âme. Die Leidenschaften der Seele, hg. von Klaus Hammacher, Hamburg 1984, ist nicht zuletzt wegen ihrer Einleitung gut verwendbar). Zu den hier nur knapp dargestellten intellektuellen Entwicklungen siehe ausführlicher und auch heute noch wertvoll: Gerd Fabian, Beitrag zur Geschichte des Leib-Seele-Problems, in: Pädagogisches Magazin, Heft 1012, Langensalza 1925 und ausführlich: Panajotis Kondylis, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, Stuttgart 1981, S. 170ff.
Dazu: Rainer Specht: Commercium mentis et corporis. Über Kausalvorstellungen im Cartesianismus, Stuttgart-Bad Cannstadt 1966.
Vgl. Hans-Jürgen Schings, Der anthropologische Roman. Seine Entstehung und Krise im Zeitalter der Spätaufklärung, in: Studien zum 18. Jahrhundert, Bd. 2/3, München 1980, S. 250ff. Dieser und den anderen Schriften von Schings (cf. das Literaturverzeichnis) verdanke ich wichtige Anregungen zum Thema.
Georg Ernst Stahl, Theorie der Heilkunde, hg. von Karl Wilhelm Ideler, 3 Bde, Berlin 1831, Erster Theil, Physiologie, S. 13.
Dazu: Sergio Moravia, La scienza dell’uomo nel Settecento, Bari 1970; dt: Beobachtende Vernunft. Philosophie und Anthropologie in der Aufklärung, übers. von Elisabeth Piras, München 1973, S. 17ff.
Georg Forster, Reise um die Welt, 1772–75, in: G. F., Werke, hg. von Gerhard Steiner, Frankfurt a. M. 1970.
Immanuel Kant, Recension von Johann Gottfried Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, in: Kant’s gesammelte Schriften, hg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Erste Abtheilung, Werke, Bd. VIII, Berlin 1912, S. 49.
Die reminiscentia bezeichnet dagegen die Fähigkeit des sich Besinnens, der willkürlichen Erinnerung; siehe dazu die zusammenfassenden Ausführungen Max Dessoirs, Geschichte der neueren deutschen Psychologie, hier zitiert nach der 2. Aufl., Bd. I, Berlin 1902, S. 412ff.
I. Kant, Werke, Briefe von und an Kant, hg. von Ernst Cassirer, Bd. I, 1749–89, Berlin 1918, S. 116f.
Hinske macht die Herkunft der Kantschen Anthropologie aus der rationalistischen Psychologie der »Schule« deutlich (Norbert Hinske, Kants Idee der Anthropologie, in Heinrich Rombach [Hg.], Die Frage nach dem Menschen. Aufriß einer philosophischen Anthropologie, Festschrift für Max Müller zum 60. Geburtstag, Freiburg, München 1966, S. 416ff.).
Als klassischer Text in diesem Sinne darf gelten: Claude Lévi-Strauss, Tristes tropiques, Paris 1955; man vergleiche aber, um ein anderes Beispiel zu geben, auch »L’Afrique phantôme« (1931–33), das Werk des Ethnologen und bedeutenden französischen Autobiographen der letzten Jahrzehnte Michel Leiris, »La Règle du Jeu«, Paris 1948ff.
Zur Seelenlehre der »Schule« sind noch heute die beiden Standardwerke von Max Dessoir (Geschichte der neueren deutschen Psychologie) und Max Wundt (Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung, Tübingen 1945) unentbehrlich.
Gottfried Wilhelm Leibniz, Nouveaux Essais sur l’entendement humain, entstanden 1702–04, ersch. 1765, hier zitiert nach G. W. Leibniz, Sämtliche Schriften und Briefe, hg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 6. Reihe, Philosophische Schriften, Bd. VI, Berlin 1962: Préface, S. 53ff. und passim.
René Descartes, Les passions de l’âme, Amsterdam, Paris 1649.
Autobiographie wird hier verstanden in der naheliegenden und in der Forschung geläufigen Abgrenzung von anderen Formen der literarischen Selbstbekundung — Brief, Tagebuch, Memoiren, Ich-Roman und dergleichen. Man weiß, daß sich Autobiographien von Memoiren dadurch unterscheiden, daß sie die subjektiven Qualitäten des Erlebten stärker hervorheben als das Objektivierbare; von Brief und Tagebuch dadurch, daß nicht das Momentane dominiert, sondern das ganze Leben oder ein repräsentativer Teil davon rückschauend als Einheit begriffen werden soll; vom Ich-Roman dadurch, daß eher das empirische als ein fiktives Ich geschildert werden will. Man weiß um diese Unterschiede, weiß aber auch, daß gleichwohl die Übergänge oft fließend sind (vgl. Roy Pascal, Design and Truth in Autobiography, London 1960
dte Ausg. von Kurt Wölfel: Die Autobiographie. Gehalt und Gestalt, Stuttgart etc. 1965
Philippe Lejeune, Le pacte autobiographique, Paris 1980, S. 13ff.). In der vorliegenden Untersuchung wird dies am Verhältnis von Autobiographie und Tagebuch exemplarisch besprochen (vgl. das Kapitel über Jung-Stilling, Bräker und Lavater).
Auch die Interpretation dieser berühmten Stelle hat Berühmtheit erlangt: Joachim Ritter, Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft, in: J. R., Subjektivität, Frankfurt a. M. 1974, S. 141ff.
Eingehend zu dieser Selbstrezension Moritzens: Raimund Bezold, Popularphilosophie und Erfahrungsseelenkunde im Werk von Karl Philipp Moritz, Würzburg 1984, S. 153f. und bes. S. 161f.
Bedeutende Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort, in: J. W. Goethe, Werke, hg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen, Weimarer Ausgabe, Abteiig. Werke, Bd. 36, Weimar 1893.
Johann Henrich Reitz, Historie der Wiedergebohrenen/ Oder Exempel gottseliger/ so bekandt- und benant- als unbekandt- und unbenanter Christen/ Männlichen und Weiblichen Geschlechts/ In Allerley Ständen […], 7 Teile, Offenbach etc. 1698–1745; neu hg. von Hans-Jürgen Schrader, Tübingen 1982.
Klaus-Detlev Müller, Autobiographie und Roman. Studien zur literarischen Autobiographie der Goethezeit, Tübingen 1976, S. 1ff., 74ff.
Kurt Wölfel, Friedrich von Blanckenburgs Versuch über den Roman, in: Reinhold Grimm (Hg.), Deutsche Romantheorien. Beiträge zu einer historischen Poetik des Romans in Deutschland, Frankfurt a. M., Bonn 1968, S. 45ff.
Vgl. neuerdings vor allem Wolfgang Riedel, Die Anthropologie des jungen Schiller. Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der »Philosophischen Briefe«, Würzburg 1985
ferner Hans-Jürgen Schings, Philosophie der Liebe und Tragödie des Universalhasses. »Die Räuber« im Kontext von Schillers Jugendphilosophie, in: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 84/85 (1980/81), S. 71ff. und ders., Schillers »Räuber«. Ein Experiment des Universalhasses, in: Wolfgang Wittkowski (Hg.), Friedrich Schiller. Kunst, Humanität und Politik in der späten Aufklärung, Tübingen 1982, S. 1ff.
Schillers Werke, National-Ausgabe, Bd. III, Die Räuber, hg. von Herbert Stubenrauch u. a., Weimar 1953, S. 38f.
Eine Übersicht über die unzähligen Titel einschlägiger Forschungsliteratur ist hier nicht am Platze. Ich nenne hier nur einige wenige Studien, die mir besonders hilfreich waren. Dies ist, nicht zuletzt wegen des universalistischen und polyglotten Zuschnitts und trotz der naheliegenden, berechtigten und immer wiederholten Kritik: Georg Misch, Geschichte der Autobiographie; hier: Bd. IV, 2. Von der Renaissance bis zu den autobiographischen Hauptwerken des 18. und 19. Jahrhunderts, bearbeitet von Bernd Neumann, Frankfurt a. M. ; ferner: Klaus-Detlev Müller, Autobiographie und Roman, Tübingen 1976
Günter Niggl, Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert, Stuttgart 1977. — Als theoretische Fundierung ist nützlich Bd. VIII von »Poetik und Hermeneutik«, der den Titel »Identität« trägt (hg. von O. Marquard und Karlheinz Stierle, München 1979). Die angelsächsische und romanistische Forschung, soweit sie in diesem Zusammenhang wichtig wurde, gebe ich, wie auch weitere deutsche Forschungsliteratur im jeweiligen Kontext an.
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Pfotenhauer, H. (1987). Einleitung. In: Literarische Anthropologie. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03240-9_1
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