Zusammenfassung
Die moderne Literaturkritik entstand in der Aufklärung, und so zeigt die Institution der bürgerlichen Kritik noch heute den Anspruch und die Widersprüche ihrer Entstehungszeit. Ihre Geschichte mit der Aufklärung beginnen zu lassen, entspricht einem Konsens der Forschung. Bereits 1915 stellte Albert Dresdner verwundert fest: »Merkwürdig genug ist es ja, daß die Kunstkritik, nachdem die Welt jahrtausendelang ohne sie sehr gut ausgekommen ist, gegen die Mitte des 18. Jahrhunderts mit einem Mal auf der Bildfläche erscheint.« [1] In René Welleks monumentalem Werk zur europäischen Literaturkritik heißt es im Vorwort: »Als sinnvoller Ausgangspunkt bietet sich die Mitte des 18. Jahrhunderts an, denn zu dieser Zeit begannen sich die Lehren des in der Renaissance begründeten klassischen Systems nach und nach aufzulösen.« [2] Und etwas später fügt er noch hinzu: »Um die Mitte des 18. Jahrhunderts tauchen jedoch sich widerstreitende Lehren und Gesichtspunkte auf, die uns auch heute noch angehen.« [3] Historischer Wandel, wenn nicht Umbruch, und gegenwärtiges Erkenntnisinteresse begründen seine Periodisierung und bestimmen seine ideengeschichtliche Darstellung. Auch Hans Mayer beginnt seine vierbändige Anthologie, Deutsche Literaturkritik, mit dem Jahr 1730; und jüngst konstatierte Peter Uwe Hohendahl: »Die Geschichte der Literaturkritik ist kürzer, als man gemeinhin annimmt. Zu einer festen Institution wurde sie erst im Zeitalter der Aufklärung.« [4]
»Wir sind darin einig, daß die Kritik für sich eine Wissenschaft ist, die alle Kultur verdient.« (Lessing)
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Anmerkungen
A. Dresdner, Die Entstehung der Kunstkritik im Zusammenhang des europäischen Kunstlebens, München 1915, S. 17.
R. Wellek, A History of Modem Criticism, New Haven 1955, dt.: Geschichte der Literaturkritik 1750–1950, Berlin 1978, Bd. I, S. 7.
H. Mayer (Hg.), Deutsche Literaturkritik. 4 Bde. Frankfurt 1978.
P.U. Hohendahl, Literaturkritik und Öffentlichkeit. München 1974, S. 131.
Auch Anni Carlsson, Die deutsche Buchkritik von der Reformation bis zur Gegenwart. Bern 1969 muß hier erwähnt werden. Allerdings ist ihr Buch eher eine epische Kulturgeschichte der Buchkritik, welche die literaturwissenschaftliche Diskussion kaum berücksichtigt.
Dieser Auffassung entsprechen die vielbenutzten Textbücher zum »Literary Criticism«: A. H. Gilbert, Plato to Dryden, Detroit 1940, [4] 1974;
G. Wilson Allen, H. Hayden Clark, Pope to Croce. 1941, [3] 1970.
R. Wellek, Wort und Begriff der Literaturkritik. In: R. W: Grundbegriffe der Literaturkritik, Stuttgart 1965.
I. Kant, Kritik der reinen Vernunft. Hamburg: Philosophische Bibliothek 1956, S. 7.
R. Koselleck, Kritik und Krise. Frankfurt [2] 1976.
J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Wiesbaden [5] 1971. Zwar wird Koselleck nicht zitiert und auf seine Arbeit nur zweimal kursorisch hingewiesen, aber in den Anmerkungen heißt es doch einmal: »Der ausgezeichneten Untersuchung von R. Koselleck verdanke ich viele Hinweise.« (S. 319, Anm. 2) So ist es!
Dazu H. Kiesel/P. Münch, Gesellschaft und Literatur im 18. Jahrhundert. Voraussetzungen und Entstehung des literarischen Marktes in Deutschland. München 1977.
W. von Ungern-Stemberg, Schriftsteller und literarischer Markt. In: Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. III: Deutsche Aufklärung bis zur französischen Revolution (1680–1789). Hrg. v. R. Grimminger, München 1980, S. 133–185.
R. Schenda, Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770–1910. München: dtv 1977, S. 444.
F. Nicolai, Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Hrg. v. F Brüggemann, DLE 15, Leipzig 1936, S. 72.
I. Kant, Über die Buchmacherey. In: Drs.: Sämtliche Werke. Hrg. v. K. Vorländer, Leipzig 1913, Bd. 6, S. 213.
J. Goldfriedrich, Geschichte des deutschen Buchhandels vom Beginn der klassischen Literaturperiode bis zum Beginn der Fremdherrschaft (1740–1804), Leipzig 1909, S. 248.
Vgl. dazu Marion Beaujean, Der Trivialroman in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Bonn 1964.
H. Schulte-Sasse, Das Konzept bürgerlich-literarischer Öffentlichkeit und die historischen Gründe seines Zerfalls, in: Aufklärung und literarische Öffentlichkeit. Hrg. v. Chr. Bürger, P. Bürger und J. Schulte-Sasse, Frankfurt 1980, S. 100.
Vgl. dazu: J. Schulte-Sasse, Die Kritik der Trivialliteratur seit der Aufklärung. München 1971.
P. Raabe, Die Zeitschrift als Medium der Aufklärung. In: Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung Bd. I (1974), S. 99 ff.
R.E. Prutz, Geschichte des deutschen Journalismus. Hannover 1845, S. 7.
J. Kirchner, Die Grundlagen des deutschen Zeitschriftenwesens. Mit einer Gesamtbibliographie der deutschen Zeitschriften bis zum Jahre 1790. 2 Bde., Leipzig 1928–1932.
J. Wilke, Literarische Zeitschriften des 18. Jahrhunderts (1688–1789). Stuttgart: Metzler 1978, 2 Bde.
G. Forster, Über die öffentliche Meinung. In: Drs.: Werke. Hrg. v. S. Scheibe, Berlin/DDR 1974, Bd. VIII, S. 364 f.
W. Martens, Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften. Stuttgart 1968.
W. Martens, Bürgerlichkeit in der frühen Aufklärung. In: Aufklärung, Absolutismus und Bürgertum in Deutschland. Hrg. v. E Kopitzsch, München 1976, S. 357.
Dazu W. Jens, Rhetorik. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Hrg. v. W. Kohlschmidt u. W. Mohr, Berlin [2] 1977, Bd. II, S. 432 ff.
G. Ueding, Einführung in die Rhetorik — Geschichte, Technik, Methode. Stuttgart 1976.
J. W. v. Goethe, Artemis Gedenkausgabe, Zürich 1953, Bd. XV, S. 1035.
W. Riech, Johann Christoph Gottsched. Eine kritische Würdigung seines Werkes. Berlin/ DDR 1972.
So H. Freier, Kritische Poetik. Legitimation und Kritik der Poesie in Gottscheds Dichtkunst. Stuttgart 1973. Diese für unseren Zusammenhang wichtige Untersuchung deutet Gottscheds »Critische Dichtkunst« (1730) »zwischen der klassizistischen und systematischen Ästhetik« (S. 2). Freier stützt sich auf das Habermassche Modell der bürgerlichen Öffentlichkeit (S. 96 ff.). Allerdings weiß er selbst, wie problematisch es ist, schon während der Gottsched-Phase von einer literarisch-kritischen Öffentlichkeit zu sprechen (122).
A. Baeumler, Das Irrationalismusproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts. Halle 1923, Nachdruck Tübingen 1967, S. 98.
H.G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Tübingen [3] 1972, S. 33.
A. von Bormann (Hrg.), Vom Laienurteil zum Kunstgefühl. Texte zur deutschen Geschmacksdebatte im 18. Jahrhundert. Tübingen 1974, Vorwort, S. 2.
J.U. König, Untersuchung vom guten Geschmack. In: Canitz, Gedichte. Berlin 1765, S. 321.
I. Kant, Kritik der Urteilskraft. Hrg. v. Karl Vorländer, Hamburg: Philosophische Bibliothek 1961, S. 148.
R. Daunicht, Lessing im Gespräch. München 1971, S. 42.
F. Schlegel, Kritische Schriften. Hrg. v. W. Rasch, München 1964, S. 390.
Vgl. dazu I. Strohschneider-Kohrs, Vom Prinzip des Maßes in Lessings Kritik. Stuttgart 1969.
H. Steinmetz, Der Kritiker Lessing. In: Neophilologus 52 (1968). Er betont nicht nur Lessings induktive Methode, sondern ist auch einer der wenigen, der zwischen Literaturtheorie und Rezension, als praktischer Literaturkritik, unterscheidet. (S. 33).
G.E. Lessing, Gesammelte Werke. Hrg. v. P. Rilla, Berlin [2] 1968, Bd. III, S. 158.
E. Keller, Kritische Intelligenz: Lessing, E Schlegel, Börne. Bern 1976, S. 78.
W. Jens, Feldzüge eines Redners. In: Ders.: Von deutscher Rede. München 1969, S. 52.
Dazu W. Barner, Lessing und sein Publikum in den frühen kritischen Schriften. In: Lessing in heutiger Sicht. Bremen 1977, S. 323 ff.
Vgl. dazu M.K. Torbruegge, On Lessing, Mendelssohn and the Ruling Powers. In: Humanität und Dialog. Lessing und Mendelssohn in neuer Sicht. Hrg. v. E. Bahr, E.P. Harris, L.G. Lyon, Detroit 1982, S. 305–318.
M. Fuhrmann, Einführung in die antiken Dichtungstheorien. Darmstadt 1973, S. 272.
Just Riedel, Briefe über das Publikum, 1768, S. 168 f.
H. Möller, Aufklärung in Preußen. Der Verleger, Publizist und Geschichtsschreiber Friedrich Nicolai. Berlin 1974, S. 6.
Moses Mendelssohn, Briefe über die Empfindung, 1755.
F. Nicolai, Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland. Hrg. v G. Ellinger, Berlin 1884, S. 41.
Ebd., S. 116.
Ebd., S. 141.
Vgl. dazu K. Scherpe, Werther und Wertherwirkung. Bad Homburg 1969.
F. Nicolai, Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz. 12 Bde., Berlin/Stettin 1783–1796, Bd. 11, S. 200 ff.
Und F. Nicolai, Anhang zu Schillers Musen— Almanach für das Jahr 1797. Berlin 1797.
Ebd, S. 11 f.
F.J. Schneider, Die deutsche Dichtung der Geniezeit. Stuttgart 1952.
Zu den Mitarbeitern gehörten, neben den Herausgebern J. H. Merck und J. G. Schlosser, auch Goethe und Herder. Auch wenn die Zuweisung der anonymen Rezensionen große Schwierigkeiten bereitet, so dürften diese Schriftsteller doch den größten Teil der Rezensionen geschrieben haben. Dazu H. Bräuning-Octavio, Herausgeber und Mitarbeiter der Frankfurter Gelehrten Anzeigen 1772. Tübingen 1966.
Zur Interpretation der Bürger-Rezension siehe: W. Müller-Seidel, Schillers Kontroverse mit Bürger und ihr geschichtlicher Sinn. In: Formenwandel. Festschrift für Paul Böckmann, Hamburg 1964, S. 294–318. Verfasser, Volkstümlichkeit ohne Volk? Kritische Überlegungen zu einem Kulturkonzept Schillers. In: Popularität und Trivialität. Hrsg. v. R. Grimm u. J. Hermand, Frankfurt 1974, S. 51–75.
Vgl. Gert Ueding, Schillers Rhetorik. Tübingen 1971, S. 16ff.
HA. Bd. XII, S. 471. Zu Goethes Symbolbegriff siehe W. Emrich, Das Problem der Symbolinterpretation im Hinblick auf Goethes »Wanderjahre«. In: DVjs. 26 (1952), S. 331 ff.
So Schillers Fragestellung in der Matthisson-Rezension. Vgl. dazu Verfasser: Zu Schillers Symbolbegriff. In: Monatshefte 70 (1978), S. 392 ff.
Vgl. dazu Christa Bürger, Der Ursprung der bürgerlichen Institution Kunst. Literatursoziologische Untersuchungen zum klassischen Goethe. Frankfurt 1977.
HA Bd. XII, S. 240. Zum Selbstverständnis der Weimarer Klassik Max Bäumer, Der Begriff »klassisch« bei Goethe und Schiller. In: Die Klassiklegende. Hrg. v. R. Grimm u. J. Hermand, Frankfurt 1971, S. 17–49.
Erschöpfend ist dieses Thema behandelt bei D. Borchmeyer. Höfische Gesellschaft und französische Revolution bei Goethe. Kronberg 1977.
Herbert Marcuse, Über den affirmativen Charakter der Kultur. In: ders.: Kultur und Gesellschaft I, Frankfurt 1965.
Zitiert nach O. Fambach Hrsg.), Schiller und sein Kreis in der Kritik der Zeit. Berlin 1957, S. 152. Dort auch weitere zeitgenössische Kritiken an den Horen.
Vgl. dazu: D. Borchmeyer, Tragödie und Öffentlichkeit. Schillers Dramaturgie. München 1973.
G. Lukács, Schillers Theorie der modernen Literatur. In: Ders.: Goethe und seine Zeit. Berlin 1955, S. 88.
Zur unterdrückten und verdrängten Vergangenheit der deutschen Literaturkritik gehört die republikanisch/jakobinische Publizistik, die dezidiert auf eine politische Öffentlichkeit und auf eine öffentliche Meinung drängte. Sie wäre als politische Publizistik das Gegenstück zur apolitischen und ästhetisierenden Literaturkritik der Weimarer Klassik. Daß sie sich gegenüber der klassisch-romantischen Literaturkritik nicht behaupten konnte, hängt nicht mit ihrer Qualität zusammen, vielmehr verzögerten die politischen Verhältnisse, die Zensur und die herrschende Ästhetik ihre Rezeption. Vgl. dazu Inge Stephan, Literarischer Jakobinismus in Deutschland (1789–1806). Stuttgart 1976.
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Berghahn, K.L. (1985). Von der klassizistischen zur klassischen Literaturkritik 1730–1806. In: Hohendahl, P.U. (eds) Geschichte der deutschen Literaturkritik (1730–1980). J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03209-6_2
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