Zusammenfassung
Zwei sehr unterschiedliche, aber nicht widersprüchliche ÄuBerungen aus lateinamerikanischen Romanen der Gegenwart. Von heut und fern geben sie bemerkenswerte Hinweise auf den älteren und näheren Gegenstand dieses Buchs. Zunächst einmal deuten sie an: ›Märchen‹ ist ein vertrauter Begriff. Er darf allemal, bei Hörern oder Lesern, mit verständiger Bereitschaft rechnen, wenn er gewisse, doch keineswegs eindeutige und einhellige Vorstellungen wachruft. Und zwar weit über den europäischen Kulturkreis hinaus. Diese Vorstellungen sind offenbar im großen Ganzen positiv; egal, was die Leute jeweils genau unter Märchen verstehen mögen. Ob nun Onettis Held ein momentanes Glücksgefühl dabei empfindet oder Carpentiers Indianer auf die Zukunft hofft: märchenhafte Verhältnisse lassen sich gleichermaßen auf kurzfristige individuelle Lagen beziehen wie auf langfristige gesamtgesellschaftliche. Dabei meint Märchen etwas, das sich deutlich vom gegenwärtigen Alltagsleben abhebt. Sonst würde der Held der Werft sich nicht daran »erinnern«; sonst würde der Indianer im Barockkonzert nicht von fernen Räumen und Zeiten reden, die märchenhaft erscheinen.
Dann, wie in Märchenerzählungen, aus denen er sich nur des Glücksgefühls nacheinander überwundener Hindernisse erinnerte, glitt er zwischen den Torflügeln hindurch …
Juan Carlos Onetti, Die Werft [1]
»Von Märchen nährt sich die große Geschichte, vergiß das nicht. Den Leuten hier [den Europäern] erscheint unseres [das latein-amerikanische] als Märchen, weil sie den Sinn für das Märchenhafte verloren haben. Sie nennen alles märchenhaft, was entfernt, nicht an die Vernunft gebunden und im Gestern verankert ist«, sagte der Amerikaner [ein lateinamerikanischer Indianer] und machte eine Pause. »Sie verstehen nicht, daß das Märchenhafte in der Zukunft liegt. Alles Zukünftige ist märchenhaft.«
Alejo Carpentier, Das Barockkonzert [2]
Preview
Unable to display preview. Download preview PDF.
Rights and permissions
Copyright information
© 1985 Springer-Verlag GmbH Deutschland
About this chapter
Cite this chapter
Klotz, V. (1985). Einführung. In: Das europäische Kunstmärchen. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03204-1_1
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-03204-1_1
Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart
Print ISBN: 978-3-476-00569-4
Online ISBN: 978-3-476-03204-1
eBook Packages: J.B. Metzler Humanities (German Language)