Zusammenfassung
Vor etwa anderthalb Jahrzehnten wurde die klassische Form der Literaturgeschichtsschreibung praktisch totgesagt[1]; sie hat gleichwohl in den letzten Jahren erstaunlich floriert[2], ohne einen tiefgreifenderen Wandel durchgemacht zu haben als den, der von der Einbeziehung neuer Objektbereiche (z. B. ›Trivialliteratur‹) und neuer Fragestellungen (z. B. ›Sozialgeschichte‹) markiert wird. Mit dieser eher verstärkten literarhistorischen Produktion hat freilich die theoretische Reflexion über die methodologischen Probleme der Literaturgeschichtsschreibung weder quantitativ noch qualitativ Schritt gehalten[3]: bei allem, was an ihm wissenschaftsgeschichtlich überholt ist, ist noch immer das nunmehr 35 Jahre alte Buch Teesings[4] die beste Darstellung der Probleme des Epochenbegriffs, von denen, als exemplarischem Paradigma der Probleme der Literaturgeschichtsschreibung, hier die Rede sein soll. Mein Gegenstand werden dabei nicht die Probleme literarhistorischer Darstellung sein, sondern die Probleme der ihr vorausliegenden Untersuchung, die allen literarhistorischen Darstellungen zugrunde liegen, wie verschieden der Typ der Literaturgeschichte sonst auch sein mag. Meine Überlegungen zu einigen wenigen Aspekten des Epochenbegriffs versuchen, teils einen Konsens über Bekanntes festzuhalten, teils einige neue Probleme zu skizzieren. Da literarhistorische Beispiele fast immer zu komplex sind, um auf dem verfügbaren Raum vorgeführt zu werden, muß ich mich auf wenige angedeutete Beispiele beschränken, insbesondere solche aus der ›Goethezeit‹ (GZ), womit die Phase 1770–1830 gemeint ist, und im übrigen auf die theoretische Phantasie des Lesers vertrauen. -
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Anmerkungen
Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft. Konstanz 1967, S. 5ff.
So, um nur einige zu nennen, z. B.: Heinz Otto Burger: Renaissance — Humanismus — Reformation. Deutsche Literatur im europäischen Kontext. Bad Homburg, Berlin u. Zürich 1969. — Hans Rupprich: Vom späten Mittelalter bis zum Barock. 2 Bde. München 1970. — Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815–1848. 3 Bde. Stuttgart 1971ff. — Gerhard Kaiser: Aufklärung — Empfindsamkeit — Sturm und Drang (UTB Bd. 484) 2. Aufl. München 1976. — Viktor Žmegač (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jhdt. bis zur Gegenwart. 4 Bde. Königstein i. Ts. 1979ff. — Horst Albert Glaser (Hg.): Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. 10 Bde. (rororo Bd. 6250–6259) Reinbek 1980ff. (bisher erschienen: Bd. 4–8 = rororo Bd. 6253–6257; zitiert als Rowohlt). — Rolf Grimminger (Hg.): Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jhdt. bis zur Gegenwart. 12 Bde. München 1980ff. (bisher erschienen: Bd. 3; auch dtv Bd. 4345; zitiert als Hanser).
Stark ist der Anteil der DDR: Ernst Engelberg u. Wolfgang Küttler (Hg.): Probleme der geschichtswissenschaftlichen Erkenntnis. Köln 1977 (Kolloquium Berlin-Ost 1974). — Werner Bahner (Hg.): Renaissance — Barock — Aufklärung. Epochen- und Periodisierungsfragen. Kronberg i. Ts. 1976. — Claus Träger: Zur Stellung und Periodisierung der deutschen Literatur im europäischen Kontext. In: Akten des VI. Internationalen Germanisten-Kongresses Basel 1980. Bd. 1. Hg. von Heinz Rupp u. Hans-Gert Roloff. Bern, Frankfurt u. Las Vegas 1981, S. 144–165. Hervorzuheben ist auch noch: Claudio Guillén: Second Thoughts on Currents and Periods. In Peter Demetz, Thomas Greene u. Lowry Nelson (Hg.): The Disciplines of Criticism. Essays in literary Theory, Interpretation, and History. New Haven u. London 1968, S. 477–509.
Hubert Paul Hans Teesing: Das Problem der Periodisierung in der deutschen Literaturgeschichte. Groningen 1948.
Fernand Braudel: Histoire et sciences sociales. La longue durée (1958) Wiederabgedruckt in F. B.: Ecrits sur L’Histoire. Champs Bd. 23. Paris 1969, S. 44–83. — Vgl. dazu auch: Claudia Honegger (Hg.): M. Bloch, F. Braudel, L. Febvre u.a.: Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge zur systematischen Aneignung historischer Prozesse (es Bd. 814) Frankfurt a. M. 1977. — Michael Erbe: Zur neueren französischen Sozialgeschichtsforschung (Erträge der Forschung Bd. 110) Darmstadt 1979.
Vgl. z. B.: Philippe Ariès: Histoire des populations françaises et de leurs attitudes devant la vie depuis le XVIIe siècle. Points Histoire Bd. 3. Paris 1971 (1. Aufl. 1948). — Ders.: L’Enfant et la vie familiale sous l’ancien régime. Points Histoire Bd. 20. Paris 1973 (1. Aufl. 1960). — Jean-Louis Flandrin: Familles. Parenté, maison, sexualité dans l’ancienne société. Paris 1976. — Ders.: Späte Heirat und Sexualleben. In: Honegger: Schrift und Materie, S. 272–310. — Edward Shorter: Die Geburt der modernen Familie. Reinbek 1977 (Engl. Aufl. 1975). — Heidi Rosenbaum (Hg.): Familie und Gesellschaftsstruktur (stw Bd. 244) Frankfurt a. M. 1978. — Dies.: Formen der Familie. Untersuchungen zum Zusammenhang von Familienverhältnissen, Sozialstruktur und sozialem Wandel in der deutschen Gesellschaft des 19. Jhdt. s. (stw Bd. 374) Frankfurt a. M 1982. — Elisabeth Badinter: L’Amour en plus. Histoire de l’amour maternel (XVIIe–XXe siècle). Champs Bd. 100. Paris 1980. — Eher essayistisch: Barbara Beuys: Familienleben in Deutschland. Neue Bilder aus der deutschen Vergangenheit. Reinbek 1980.
Philippe Ariès: Essais sur l’histoire de la mort en Occident du Moyen Age à nos jours. Ponts Histoire Bd. 31. Paris 1975. — Ders.: L’Homme devant la mort. Paris 1977. — Michel Vovelle: Attitudes devant la mort aux XVIIe et XVIIIe siècle. Archives Bd. 53. Paris 1974. — Arthur E. Imhof: Die gewonnenen Jahre. Von der Zunahme unserer Lebensspanne seit 300 Jahren. München 1981.
So z. B. Willi Flemming: Das Jahrhundert des Barock. In: Richard Newald, Willi Flemming, Fritz Martini, Wolfdietrich Rasch u. Wolfgang Baumgart: Geschichte der deutschen Literatur vom Humanismus bis zu Goethes Tod (1490–1832). (Aus: Annalen der deutschen Literatur. Hg. v. Heinz Otto Burger) 2. Aufl. Stuttgart 1962, S. 339–404.
So Rupprich: Vom späten Mittelalter bis zum Barock.
So Newald in: Annalen der deutschen Literatur.
So Newald und Flemming in: Annalen der deutschen Literatur.
Geradezu exemplarisch z. B. in: Herbert A. Frenzel u. Elisabeth Frenzel: Daten deutscher Dichtung. Chronologischer Abriß der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 1 (dtv Bd. 3003) 18. Aufl. München 1981 (1. Aufl. Köln 1953).
Vgl. z. B. Michael Titzmann: Zu Jung-Stillings Theorie der Geisterkunde: Historischer Ort und Argumentationsstruktur. In Jung-Stilling: Theorie der Geisterkunde. Nachdruck Hildesheim 1979, S. 381–417.
Vgl. Teesing: Periodisierung, S. 51f.
Vgl. z. B. Ernst Engelberg: Ereignis, Struktur und Entwicklung in der Geschichte. In Engelberg u. Küttler (Hg.): Probleme, S. 10.
Ähnlich schon Teesing: Periodisierung, S. 51f.
So z. B. sowohl Hanser als auch Rowohlt als auch Žmegač: Geschichte. Die verblüffende Periodisierung 1740–1786 hat Rowohlt Bd. 4.
Der Begriff ist im Umfang des wissenssoziologischen Wissensbegriffs gemeint. Vgl. Michael Titzmann: Strukturale Textanalyse (UTB Bd. 582) München 1977, S. 263–331. Speziell zur GZ: Michael Titzmann: Bemerkungen zu Wissen und Sprache in der Goethezeit (1770–1830). (Erscheint) in: J. Link u. W. Wülfing (Hg.): Bewegung und Stillstand in Metaphern und Mythen. Zur Verarbeitung neuen Wissens im 19. Jhdt. (voraussichtlich 1983).
So in Rowohlt Bd. 4–8, unter je verschiedenen Titeln. Für die Bde. 7 u. 8 mag sich die Berechtigung des Verfahrens diskutieren lassen, für die Bde. 4–6 in dieser Form sicher nicht.
So etwa Kaiser: Aufklärung, S. 12; Žmegač: Geschichte Bd. I/1, S. XXXI; Bahner: Renaissance, S. 158; Krauss in Bahner (Hg.): Renaissance, S. 176. Die beiden DDR-Autoren postulieren natürlich einen fundamentalen Einschnitt durch die französische Revolution — so auch Grimminger in Hanser Bd. 3, S. 71; dagegen Kaiser: Aufklärung.
Ich übernehme den Begriff von Guillén: Currents and Periods, der von ›currents‹ spricht.
Hermann August Korff: Geist der Goethezeit. 5 Bde. Leipzig 1923ff.
Erstaunen darf es dann schon, wenn Glaser in Rowohlt Bd. 5, S. 276–312, unter dem Titel »Klassisches und romantisches Drama« natürlich als Repräsentanten der ›Klassik‹ Goethe und Schiller, darüber hinaus nur noch Kleist behandelt — repräsentiert somit Kleist das Drama der ›Romantik‹? Und wo sind die Dramen Brentanos, Arnims, Tiecks, von mir aus auch Schlegels hingekommen? Wo ist Zacharias Werner?
Vgl. hier und im folgenden Jürgen Friedrichs: Methoden empirischer Sozialforschung (Rowohlt Studium Bd. 28) Reinbek 1973, Kap. 3.4.
Zum Begriff vgl. Titzmann: Goethezeit.
Dazu Peter Schmidt: Rowohlt Bd. 5, S. 78; Wolfgang von Ungern-Sternberg: Hanser Bd. 3, S. 134; auch: Helmuth Kiesel u. Paul Münch: Gesellschaft und Literatur im 18. Jhdt. Voraussetzungen und Entstehung des literarischen Marktes in Deutschland. München 1977, S. 181.
Vgl. Newald u. a. in: Annalen der deutschen Literatur, S. 306.
So die Arbeiten — untereinander so verschiedener — Autoren wie Michel Foucault, Hans Blumenberg, Gaston Bachelard, Georges Canguilhem, Thomas S. Kuhn und Wolfgang Stegmüller.
Z. B. Burger: Renaissance — Humanismus — Reformation.
Z. B. Rupprich: Vom späten Mittelalter bis zum Barock; Sengle: Biedermeierzeit.
Dazu gehören nicht nur die sozialgeschichtlichen Arbeiten (wie z. B. die in Anm. 6 und 7 genannten Titel), sondern auch Epochengesamtdarstellungen strukturgeschichtlichen Typs; mehrere, wie mir scheint, gute Beispiele finden sich etwa in den Bänden der Fischer-Weltgeschichte, so etwa: Ruggiero Romano u. Alberto Tenenti: Die Grundlegung der modernen Welt. Spätmittelalter, Renaissance, Reformation (Fischer-WG Bd. 12) Frankfurt a. M. 1967. — Guy Palmade: Das bürgerliche Zeitalter (Fischer-WG Bd. 27) Frankfurt a. M. 1974. — Richard van Dülmen: Die Entstehung des frühneuzeitlichen Europa 1550–1648 (Fischer-WG Bd. 24) Frankfurt a. M. 1982.
Karl Eibl: Kritisch-rationale Literaturwissenschaft. Grundlagen zur erklärenden Literaturgeschichte (UTB Bd. 583) München 1976, S. 43ff. Ich habe in der Folge eine etwas von Eibl abweichende Formulierung gegeben, um die von ihm genannten Probleme zu vermeiden; in der hier angegebenen Form solcher Regeln würde die eigentliche Gesetzmäßigkeit, eine Regularitätsbehauptung in ›wenn-dann‹-Form, erst nach dem »daß« stehen. Die Frage, ob überhaupt ein Phänomen X auftritt bzw. unter welchen Bedingungen es auftritt, kann natürlich ihrerseits Gegenstand solcher Regularitätsbehauptungen werden, z. B. in der Form »X tritt (genau) dann auf, wenn Te ein Text des Typs Y ist« usw.
Teesing: Periodisierung, S. 35f. hatte es explizit vorgeschlagen.
So z. B das Modell des Wissenschaftswandels, das Th. S. Kuhn vorgeschlagen und W. Stegmüller verbessert hat. Siehe dazu Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt a. M. 1967. — Wolfgang Stegmüller: Theorienstrukturen und Theoriendynamik. Berlin u. New York 1973.
So z. B. Klaus W. Hempfer: Gattungstheorie (UTB Bd. 133) München 1973, S. 219. Eibl: Kritisch-rationale Literaturwissenschaft, S. 93ff. Aufzugreifen wären evtl. auch die diesbezüglichen Anregungen der sozialpsychologischen Dissonanztheorien — vgl. dazu Werner Herkner: Einführung in die Sozialpsychologie. Bern, Stuttgart u. Wien 1975.
So Marianne Wünsch: Der Strukturwandel in der Lyrik Goethes. Stuttgart, Berlin, Köln u. Mainz 1975; theoretische Überlegungen dort insbesondere S. 181–190.
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Titzmann, M. (1983). Probleme des Epochenbegriffs in der Literaturgeschichtsschreibung. In: Richter, K., Schönert, J. (eds) Klassik und Moderne. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03181-5_5
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