Zusammenfassung
Mit den Publikationen zum 150. Todestag Goethes in den Medien kündigt sich möglicherweise eine unbefangenere, sich belastender Verstehenstraditionen ledig wissende Betrachtungsweise des Klassikers an. War Goethe 1970 noch Gegenstand heftiger ideologischer Auseinandersetzungen[1], so verzichtet man heute sowohl auf Denkmalspflege wie auf Denkmalszerstörung. Goethe ist weder ein kanonisierter noch ein tabuisierter Autor. Demgemäß fehlen unter den Publikationen die herabsetzende Polemik wie die vollmundigen Resümees und bildungsträchtigen Würdigungen. Die legitime Frage, was bedeutet uns Goethe heute, wird — entsprechend den literarischen Wahrnehmungs- und Sprechmustern der späten siebziger Jahre — ganz persönlich gestellt[2]. Der authentische Erfahrungsbericht, das ausplaudernde Bekenntnis, die private Meinungsäußerung sind an die Stelle apologetischer Inanspruchnahme für Weltanschauungen getreten. Goethe wurde gleichsam re-privatisiert.
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Anmerkungen
Vgl. Bodo Lecke: Literatur der deutschen Klassik. Rezeption und Wirkung. Heidelberg 1981, S. 216.
Die Süddeutsche Zeitung (20/21. 3. 1982) brachte nur einen Artikel von M. Gregor-Dellin (»Pompes funèbres zur Beerdigung von Goethe«), die Frankfurter Allgemeine Zeitung (20. 3. 1982) eine persönliche Stellungnahme von R. Baumgart (»Eine Liebes-Erklärung«) und G. Kunert (»Zuneigung unmöglich«) sowie Artikel von W. Jens, E. Klaßmann und W. Hinck zum ›Alltags-Goethe‹. Zur Problematik der Beschäftigung mit ›Goethe heute‹ siehe Jochen Vogt: Goethe aus der Ferne. In: Goethe. Hg. v. Heinz L. Arnold (Sonderband von Text und Kritik) München 1982, S. 5–26.
Vgl. die Aktivitäten des Hessischen Rundfunks am 21. 3. 1982 mit ›Radio Goethe‹, die Sendereihe von F. Kemp im Bayrischen Rundfunk (»Der Beamte«; »Der Naturforscher«; »Der Theaterdirektor«; »Der Hausvater«) und die Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (vgl. Anm. 2).
Robert Steiger: Goethes Leben von Tag zu Tag. Eine dokumentarische Chronik. Bd. 1. Zürich 1982.
Bernhard Peschken: Goethe, bürgerlicher Schriftsteller, im sozialgeschichtlichen Zusammenhang. In: Literaturmagazin 2. Von Goethe lernen? Fragen der Klassikrezeption. Hg. v. Hans Ch. Buch. Reinbek bei Hamburg 1974, S. 28–48; Hans Ch. Buch: Der »menschlichste aller Menschen«. Retuschen an meinem Goethebild. Ebd. S. 49–67.
Goethe im Urteil seiner Kritiker. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Goethes in Deutschland. Hg., eingeleitet und kommentiert v. Karl R. Mandelkow. Bd. 1 u. 2. München 1975 u. 1977.
Ein solcher Ansatz liegt vor in der ›Theorie literarischer Produktionshandlungen‹ bei Siegfried J. Schmidt: Grundriß der Empirischen Literaturwissenschaft. Teilband 1. Braunschweig u. Wiesbaden 1980, S. 199–227.
Michael Rutschky: Semantische Ökologie? Beobachtungen am neuesten Schreiben. In: Literatur und Erfahrung. Zeitschrift für literarische Sozialisation. Berlin 1981, S. 68.
Ebd. S. 66.
Als Adaptionen werden jene literarischen Werke bezeichnet, die sich zu einer literarischen Vorlage wie die Nachahmung zum Original verhalten. Zum Begriff s. u. S. 523f.
Von diesen Titeln erwähnt der Ausstellungskatalog der Deutschen Bibliothek in Frankfurt: Goethe in Deutschland, 1945–1982. Besorgt von Brita Eckert u. a., Frankfurt a. M., 1982, im Kapitel »Goethe-Bezüge bei Schriftstellern« (S. 243ff.) nur Plenzdorf.
Bei Handke handelt es sich um eine ›Filmerzählung‹, bei Plenzdorf um ein Prosabzw. Bühnenstück, bei Heißenbüttel um eine Literaturcollage.
Jürgen Jacobs: Wilhelm Meister und seine Brüder. München 1972; Klaus F. Gille (Hg.): Goethes Wilhelm Meister. Zur Rezeptionsgeschichte. Königstein i. Ts. 1979; Jürgen Kolbe: Goethes Wahlverwandtschaften und der Roman des 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1968. — An dieser Stelle sei dankbar meines Lehrers Professor Müller-Seidel gedacht. In diesen Aufsatz ist manches von dem eingeflossen, was in seinen Seminaren vermittelt wurde.
Mandelkow: Goethe Bd. 1, S. XVIIIf.; Lecke: Literatur, S. 208ff; H. J. Grünwaldt bezeichnet in seinem Aufsatz »Sind Klassiker etwa nicht antiquiert?« (in: Diskussion Deutsch 1/2, 1970/71, S. 31) Goethe als »ideologische Leiche«.
Siehe Hans M. Enzensberger: Gemeinplätze, die Neueste Literatur betreffend. In: Kursbuch 15 (1968), S. 187–197; Karl M. Michel: Die sprachlose Intelligenz II. Muster ohne Wert. In: Kursbuch 4 (1966), S. 161–212.
Kurt Batt: Revolte intern. Betrachtungen zur Literatur der Bundesrepublik. München 1975, S. 132. — Zur Romanliteratur um 1970: ebd. S. 123–179, »Die Exekution des Erzählers«.
Helmut Heißenbüttel: D’Alemberts Ende, S. 278 u. ö.
Die jüngste Forschung zu Goethes Romanen verfolgt neue Fragestellungen und geht dabei von einem produktionsästhetischen Ansatz aus. Sie spürt den verschiedenen Lesarten und Sinnschichten als einer besonderen poetischen, der pragmatischen Einsinnigkeit des Jahrhunderts entgegenarbeitenden Praxis nach, die aufgrund der »diaphanen« Einbeziehung der Bilderwelten antiker Mythologie als einem kulturellen Wissen Goethes entstehen, so Hannelore Schlaffer: Wilhelm Meister. Das Ende der Kunst und die Wiederkehr des Mythos. Stuttgart 1980; Wiltrud Wiethölter: Legenden. Zur Mythologie von Goethes Wahlverwandtschaften. In: DVJs 56 (1982), S. 1–64; Norbert W. Bolz (Hg.): Goethes Wahlverwandtschaften. Hildesheim 1981.
Die Diskussion um das Stück ist gut dokumentiert und eingeleitet von Peter J. Brenner: Plenzdorfs Neue Leiden des jungen W. (st 2013) Frankfurt a. M. 1982. Den folgenden Ausführungen zu Plenzdorf liegt die Ausgabe im Spectaculum 20 (1974), S. 237–283, zugrunde.
Siehe Anm. 14.
Zur Funktion der Zitate Franz P. Waiblinger: Zitierte Kritik. In: Poetica 8 (1976), S. 71–88.
Robert Weimann: Goethe in der Figurenperspektive. In Brenner: Plenzdorf, S. 161; s. a. Friedrich K. Kaul, ebd. S. 151f.
Zum Parodiebegriff Theodor Verweyen u. Gunther Witting: Die Parodie in der neueren deutschen Literatur. Darmstadt 1979, bes. S. 112ff.
Mit diesen Kriterien hat Erwin Rotermund (in: Die Parodie in der modernen deutschen Lyrik. München 1963) die Gattung zu beschreiben und abzugrenzen versucht. Dazu Verweyen u. Witting: Parodie, S. 83ff.
Rüdiger Ahrens: Englische Parodien. Heidelberg 1972, Einleitung S. 14.
Vgl. Jacques Dubois u. a.: Allgemeine Rhetorik. München 1974, S. 176f.
In der Musiktheorie, dem er entstammt, meint dieser Begriff die Umschrift eines Themas, sei es durch Versetzen in eine neue Tonart, sei es durch Neuinstrumentierung.
Vgl. Brenner: Plenzdorf, S. 28.
Peter Handke: Falsche Bewegung (st 258) 5. Aufl. Frankfurt a. M. 1981; Nachweise der Zitate stehen im Text in Klammern.
So die ältere Literatur nach 1945; s. a. Manfred Mixner: Peter Handke. Kronberg i. Ts. 1977, S. 217.
Ebd. S. 214.
Hans C. Blumenberg: Deutschlands tote Seelen. Peter Handke und Wim Wenders auf Wilhelm Meisters Spuren. In: Die Zeit v. 21. 3. 1975.
Vgl. Michel: Die sprachlose Intelligenz.
Zit. nach Batt; Revolte, S. 212.
Siehe die Stellungnahme von S. Hermlin zu dem Brief von F. K. Kaul (Brenner: Plenzdorf, S. 151f.) an die Redaktion von Sinn und Form (ebd. S. 179f.).
Zit. nach B. Jeremias: R. Baumgart: Tractat mit Personen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 8. 4. 1982.
Zitiert wird die Ausgabe: Goethes Werke Bd. 6. 4. Aufl. Hamburg 1960.
Lothar Bornscheuer: Wahlverwandtes? Zu Kants Aula und Heißenbüttels D’Alemberts Ende. In: Basis. Jahrbuch für deutsche Gegenwartsliteratur. Hg. v. Reinhold Grimm u. Jost Hermand. 4(1973), S. 201–234. Hier S. 219; H. Heißenbüttels Roman Projekt Nr. 1 D’Alemberts Ende wird nach der Erstausgabe zitiert; Nachweis der Zitate im Text in Klammern.
Helmut Heißenbüttel: Erfundenes Interview mit mir selbst über Projekt Nr. 1: D’Alemberts Ende. In H. H.: Zur Tradition der Moderne. Neuwied u. Berlin 1972, S. 372.
Ebd. S. 372.
Helmut Heißenbüttel in H. H. u. Heinrich Vormweg: Briefwechsel über Literatur. Neuwied u. Berlin 1969, S. 29.
Ebd.
Harald Hartung: Synthetische Authentizität. Über einige Literaturcollagen. In: Neue Rundschau 82 (1971), S. 144–158. Hier S. 146.
Siehe Anm. 17.
Batt: Revolte, S. 156.
Heißenbüttel: Interview, S. 374.
Zitiert wird nach der Ausgabe München 1975; Nachweis der Zitate im Text in Klammern.
Zit. bei Batt: Revolte, S. 152.
Z. B. Verena Stefan: Häutungen. München 1975; Nicolas Born: Die erdabgewandte Seite der Geschichte. Reinbek bei Hamburg 1976; Martin Walser: Jenseits der Liebe. Frankfurt a. M. 1976; Gerhard Roth: Winterreise. Frankfurt a. M. 1978.
Albert von Schirnding: Klassische Literatur in der Schule. In: Süddeutsche Zeitung v. 14./15. 9. 1974.
Heißenbüttel: Interview, S. 369; gemeint ist Marcel Reich-Ranicki, der auf der Tagung der Gruppe 47 1960 diesen Wunsch äußerte.
Heißenbüttel: Interview, bes. S. 372; s. a. Bodo Heimann: H. Heißenbüttel. D’Alemberts Ende. In B. H.: Experimentelle Prosa der Gegenwart. München 1978, S. 65–80, bes. S. 69ff.
Bornscheuer: Wahlverwandtes, S. 225 u. 227. Auch Batt: Revolte, S. 154, schließt sich Bornscheuer an: Die Zitate seien »willkürlich, austauschbar und daher bedeutungslos«.
Thomas Mann: Doktor Faustus. Gesammelte Werke Bd. 6. Frankfurt a. M. 1960, S. 201.
Heißenbüttel: Interview, S. 373.
Heimann: Prosa, S. 69.
Stefan Blessin: Die Wahlverwandtschaften. In S. B.: Die Romane Goethes. Königstein i. Ts. 1979, S. 94.
Ebd. S. 98.
Ebd.
Siehe das Motto aus dem Gespräch Eduard, Charlotte und Hauptmann in Teil 1, Kap. 4 der Wahlverwandtschaften (S. 275) vor dem Titelblatt von Im Garten der Gefühle.
Zu Eduards Schicksalsgläubigkeit siehe Blessin: Romane, S. 76ff.
W. Benjamin: Goethes Wahlverwandtschaften. In: Gesammelte Werke Bd. 1.1. Frankfurt a. M. 1974, S. 123–201.
Siehe Blessin: Romane, S. 75ff.
Reinhard Baumgart: Freizeitmenschen unter sich. In: Die Zeit v. 10. 10. 1975.
W. Helwig: In die Vergangenheit zurück. In: Frankfurter Hefte 31 (1976) H. 10, S. 70–72.
Goethe vor Riemer am 28. 8. 1808. In: Johann Wolfgang Goethe. Gedenkausgabe. Hg. v. Ernst Beutler. Goethes Gespräche 1. Teil. 1964, S. 500.
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Weber, E. (1983). Transkriptionen: Goethes Romane in der Literatur der siebziger Jahre. In: Richter, K., Schönert, J. (eds) Klassik und Moderne. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03181-5_24
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