Zusammenfassung
Freuds Verhältnis zu Goethe — von literaturwissenschaftlicher wie von psychoanalytischer Seite wenig beachtet[1] — hat gewiß einen eher marginalen Status. Goethes Werk hat, anders als König Ödipus oder Hamlet[2], kaum literarische Folien für die Formulierung psychoanalytischer Basiskonzeptionen geliefert, auch hat sich die klassische Psychoanalyse lediglich mit eher peripheren Aspekten Goethes beschäftigt und so den tradierten Goethe-Bildern kein neues von weitreichender kultureller Bedeutung hinzugefügt[3]. Auf den ersten Blick scheint sich bei Freud und seinem Kreis die Abstinenz in Sachen Goethe abzuzeichnen[4]. Dem widerspricht aber die lebenslange Vertrautheit Freuds mit Goethes Leben und Werk[5] ebenso wie die Ehrfurcht, mit der das Wort »eines unserer großen Dichter und Weisen« (GW XIV, 432)[6] zitiert zu werden pflegt. Es hat den Anschein, als habe für die frühe Psychoanalyse der Diskurs mit Goethe sein Faszinierendes ebenso wie seine Schwierigkeiten, Momente, die den Diskurs zu einem Kryptodiskurs werden lassen. Seine wenigstens skizzenhafte Rekonstruktion im Zusammenspiel psychoanalytischer Konzeptionen und allgemeiner kultureller Rahmenbedingungen der Zeit mag für die Wirkungsgeschichte Goethes wie für die Geschichte der Psychoanalyse dann doch wieder nicht ohne Interesse sein. Innerhalb dieser wirkungs- und wissenschaftsgeschichtlichen Fragestellung braucht weder der wissenschaftliche Status psychoanalytischer Interpretationen und Theoreme zu interessieren noch die Frage nach dem endgültig verbindlichen Verständnis Goethes.
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Anmerkungen
So auch die Einschätzung bei Klaus Schröter: Maximen und Reflexionen des jungen Freud. In: Aus Freuds Sprachwelt und andere Beiträge. Jahrbuch der Psychoanalyse Beiheft 2 (1974), S. 129–186. Hier S. 141.
Zum ›literarischen Komplex‹ der Psychoanalyse und dem paradigmatischen Charakter von Ödipus und Hamlet zur Ausformulierung der entstehenden Theorie vgl. Jean Starobinski: Literatur und Psychoanalyse. Aus dem Französischen v. E. Rohloff (Literatur der Psychoanalyse) Frankfurt a. M. 1973. Die anhand des Werther ›entdeckte‹ Parallele von hysterischer Phantasie und literarischer Produktion hat dagegen nur einen bescheidenen Status. Vgl. Sigm. Freud: Aus den Anfängen der Psychoanalyse. Briefe an Wilhelm Fliess. Abhandlungen und Notizen aus den Jahren 1887–1902. London 1950, S. 222.
Allenfalls wären psychologisierende biographische Versuche außerhalb des engeren Kreises der Psychoanalytiker zu nennen. Zum Überblick vgl. Heinz Kindermann: Das Goethe-Bild des 20. Jahrhunderts. 2. verb. u. ergänzte Aufl. Darmstadt 1966, S. 290–300. Thomas Manns Lotte in Weimar stellt einen interessanten Sonderfall dar, der hier nicht behandelt werden kann.
Auch K[urt] R[obert] Eissler: Goethe. A Psychoanalytic Study. Detroit 1963, S. XXI, bemerkt im Vorwort seiner Goethe-Studie, wie gering der Beitrag der Psychoanalyse zur Goethe-Forschung sei.
Das Faktum von Freuds intimer Goethe-Kenntnis wurde durchgehend notiert, zuerst von Fritz Wittels: Sigmund Freud. Der Mann. Die Lehre. Die Schule. Leipzig u. a. 1924, S. 10. Zur Zusammenfassung vgl. Ludwig Marcuse: Sigmund Freud. Sein Bild vom Menschen (rowohlts deutsche enzyklopädie 14) Hamburg 1956, S. 81–85. Die Schriften und Briefe Freuds sind bekanntlich mit Goethe-Zitaten und biographischen Anspielungen durchsetzt. Das Zitatmaterial stammt häufig aus den kanonischen Werken, meist dem Faust, doch finden sich auch Hinweise auf entlegene Texte.
Freud wird zitiert nach Sigm[und] Freud: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet. 18 Bde. London 1952ff. (GW). Bei Zitaten nennt die römische Zahl den Band, die arabische die Seitenzahl.
Hier und im folgenden ist stets die klassische Schule gemeint. Neuere Versuche einer nicht biographistisch verfahrenden psychoanalytischen Textinterpretation brauchen nicht zu interessieren.
Vgl. M. Rutschky: Lektüre der Seele. Eine historische Studie über die Psychoanalyse der Literatur (Ullstein Materialien) Frankfurt a. M. u. a. 1981, S. 122.
Zur kulturanthropologischen Bedeutung der Vatertötung vgl. Freud, Totem und Tabu (GW IX).
Vgl. Karl Robert Mandelkow: Einleitung. In: Goethe im Urteil seiner Kritiker. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Goethes in Deutschland. Teil III 1870–1918. Hg., eingeleitet u. kommentiert v. K. R. M. (Wirkung der Literatur Bd. 5) München 1979, S. XV–LXVII. Hier S. XVIII und S. XLVI–LIII.
E. Hitschmann: Goethe als Vatersymbol. An Träumen demonstriert. In: Internationale Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse 1 (1913), S. 569–570. Hier S. 570. Im Kontext weist Hitschmann darauf hin, daß sich Goethes Biographen so auch das Leben des Großen in seinem Volke vorstellen.
Vgl. Mandelkow: Einleitung, S. LXII–LXVI.
Dies gilt bis in die Gegenwart hinein. Zwar analysiert Eissler eingehend die destruktiven Wirkungen der genialen Persönlichkeit auf die Menschen ihrer Umgebung, rechtfertigt dies dann aber mit dem kulturellen Gewinn des Werkes. Vgl. Eissler: Goethe, S. 1308–1365.
Vgl. Ernest Jones: Das Leben und Werk von Sigmund Freud. Deutsch v. K. Jones und G. Meili-Dworetzki. 3 Bde. 2. Aufl. Bern u. a. 1978. Hier Bd. 2, S. 458.
Vgl. Mandelkow: Einleitung, S. XVII–XX.
Vgl. die recht anschauliche Schilderung des alten Burgtheaters bei Fritz Wittels: Goethe und Freud. In: Die psychoanalytische Bewegung 2 (1930), S. 431–466. Hier S. 439–443.
Vgl. die Parallelisierung von Leonardo da Vincis Verhalten im Dienst des Cesare Borgia und Goethes während der Campagne in Frankreich GW VIII, S. 135.
Marcuse: Sigmund Freud, S. 81–90.
Dies zusammengefaßt in Freuds Formel: »Wo Es war; soll Ich werden« (GW XV, S. 86).
Näheres zum Verhältnis Freuds zu den Expressionisten und Surrealisten bei Jack J. Spector: Freud und die Ästhetik. Psychoanalyse, Literatur und Kunst. Aus dem Amerikanischen v. G. u. K.-E. Felten. München 1973, und bei Rutschky: Lektüre der Seele, S. 160–175.
Vgl. Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. Hg. v. Herman Nunberg u. Ernst Federn. 4 Bde. Frankfurt a. M. 1976–1981. Hier Bd. 1, S. 26.
P. J. Möbius: Ueber das Pathologische bei Goethe. Leipzig 1898. Hier S. 174–175.
Vgl. etwa Goethes Ausführungen zur Überwindung seiner jugendlichen Neigung zum Selbstmord (HA IX, S. 583–585). Goethe wird zitiert nach: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bdn. 8. Aufl. Hamburg 1966 (HA). Bei Zitaten nennt die römische Zahl den Band, die arabische die Seite.
Vgl. O. Rank: Das Inzest-Motiv in Dichtung und Sage. Grundzüge einer Psychologie des dichterischen Schaffens (Unveränderter reprograph. Nachdruck d. 2. wesentlich verbesserten und vermehrten Aufl. Leipzig u. Wien 1926) Darmstadt 1974. Hier S. 407–439.
Vgl. Theodor Reik: Warum verließ Goethe Friederike? Eine psychoanalytische Monographie. Wien 1930.
Philipp Sarasin: Goethes Mignon. Eine psychoanalytische Studie. In: Imago 15 (1929), S. 349–399.
Imre Hermann: Die Regression zum zeichnerischen Ausdruck bei Goethe. In: Imago 10 (1924), S. 424–430.
Vgl. Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. Bd. 3, S. 252.
E. Hitschmann: Psychoanalytisches zur Persönlichkeit Goethes. In: Imago 18 (1933), S. 42–66. Hier S. 43.
Vgl. Wilhelm Reich: Der triebhafte Charakter. Eine psychoanalytische Studie zur Pathologie des Ich (Neuere Arbeiten zur ärztlichen Psychoanalyse 4) Leipzig u. a. 1925. Hier S. 14.
Vgl. Eissler: Goethe.
Vgl. Jones: Das Leben und Werk von Sigmund Freud Bd. 1, S. 337–382.
Zur Entstehung und Funktion dieser Legendenbildung, die Freuds Selbsterfahrung zu Ungunsten des wissenschaftlichen Umfeldes überbetont, vgl. Frank J. Sulloway: Freud. Biologe der Seele. Jenseits der psychoanalytischen Legende. Köln-Lövenich 1982, S. 47–49; S. 295–298; S. 657–661.
Der Verlust fast aller frühen Manuskripte dürfte eine solche ideengeschichtliche Rekonstruktion weitgehend unmöglich machen. Schröters spekulativer Versuch zeigt die Möglichkeiten und Grenzen sehr genau. Vgl. Schröter: Maximen und Reflexionen des jungen Freud.
S. Freud: Briefe 1873–1939. Hg. v. Ernst u. Lucie Freud. 2. erw. Aufl. Frankfurt a. M. 1960, S. 267.
S. Freud: Psychopathische Personen auf der Bühne. In S. F.: Bildende Kunst und Literatur (Studienausgabe Bd. 10) Frankfurt a. M. 1969, S. 161–168.
»Die Rivalität mit dem Vater hat sich nur in vereinzelten dichterischen Phantasien und Fragment gebliebenen Entwürfen im künstlerischen Schaffen Goethes durchgesetzt.« Rank: Das Inzest-Motiv, S. 476.
Vgl. Mandelkow: Einleitung, S. LIII–LXII.
Vgl. Hermann v. Helmholtz: Über Goethes naturwissenschaftliche Arbeiten. In H. v. H.: Vorträge und Reden Bd. 1. Braunschweig 1884, S. 1–24.
Zu Ernst Brücke und seiner Bedeutung für Freud vgl. Jones: Das Leben und Werk von Sigmund Freud Bd. 1, S. 57–81.
Vgl. Wittels: Goethe und Freud, S. 443–463.
Aus dem skizzierten Polaritätsdenken hat Iago Galdston einen Einfluß der romantischen Naturphilosophie, zu der er auch Goethe rechnet, auf Freud konstruiert. Dies würde die wissenschaftliche Verwandtschaft zwischen Goethe und Freud historisch erklären. Vgl. I. Galdston: Freud and Romantic Medicine. In: Bulletin of the History of Medicine 30 (1963), S. 489–507. Zur Unhaltbarkeit einer solchen Annahme vgl. Sulloway: Freud, S. 213–215. Ebenso problematisch ist Schröters Annahme, Freud habe von Goethe die morphologische Methode gelernt. Vgl. Schröter: Maximen und Reflexionen des jungen Freud, S. 171. Was es an genetisch-morphologischem Denken bei Freud gibt, ist durch die Omnipräsenz Darwins hinreichend zu erklären. Vgl. dazu Sulloway: Freud, S. 336–386.
Der Problematik derart kursorischer Bemerkungen bin ich mir bewußt. Zu Goethes Naturwissenschaft vgl. grundsätzlich Carl Friedrich v. Weizsäckers Nachwort HA XIII, S. 537–554. Versuche, den wissenschaftstheoretischen Status der Freudschen Psychoanalyse differenzierter zu bestimmen, als er es getan hat, oder Freuds ›szientistisches Selbstmißverständnis‹ zu eliminieren, brauchen hier nicht besprochen zu werden. Die minutiösen Forschungen bei Sulloway: Freud, dürften aber zeigen, wie sehr Physiologie und Biologie in ihrer ›harten‹materialistischen Fassung das Denken Freuds bis in die Konstitution seiner Theorien hinein bestimmen.
Zur Zusammenfassung vgl. Jolande Jacobi: Die Psychologie von C. G. Jung. Eine Einführung in das Gesamtwerk. Mit einem Geleitwort von C. G. Jung. Frankfurt a. M. 1977.
Vgl. Marcuse: Sigmund Freud, S. 82–83.
I. Hermann: Goethes Aufsatz Die Natur und Freuds weitere philosophisch-psychologische Lektüre aus den Jahren 1880–1900. In: Jahrbuch der Psychoanalyse 7 (1974), S. 77–100.
Freuds verschlüsselte Goethe-imitatio wurde öfter bemerkt (so bei Schröter: Maximen und Reflexionen des jungen Freud, S. 141), ohne daß bislang ihr Bedeutungsgehalt aufgedeckt wäre. Daß Freud selbst die Parallelisierung ironisch zurückgewiesen hat (vgl. Jones: Das Leben und Werk von Sigmund Freud Bd. 2, S. 220–221), ist sicher auch eine Sache der Diskretion.
G. Kaiser: Mutter Nacht — Mutter Natur. Anläßlich einer Bildkomposition von Asmus Jacob Carstens. In: Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften. Programme des Poststrukturalismus. Hg. v. Friedrich A. Kittler (UTB 1054) Paderborn u. a. 1980, S. 87–141.
S. Freud: Briefe, S. 428. Nach Sulloway: Freud, S. 126–128 u. S. 131–135, ist dies eine Legende. Freuds Identifizierung mit Faust wird demnach erst durch eine Retuschierung des tatsächlichen Forschungsprozesses möglich.
Vgl. Mandelkow: Einleitung, S. XXXV–XLVI.
Vgl. Thomas Mann: Freud und die Zukunft. In Th. M.: Reden und Aufsätze Bd. 1 (Ges. Werk in 12 Bdn. Bd. 9) Frankfurt a. M. 1960, S. 478–501. Hier S. 501.
Die Frage nach dem Stellenwert dieser Bemerkung innerhalb der psychoanalytischen Theorie sei hier nicht weiter verfolgt. Immerhin gelangt Freud hier, angeregt durch das Rätsel Goethe, hinter das ödipale Drama zurück auf die Bedeutung der präödipalen Mutter. Ihre Funktion für die narzißtische Stabilität (Mut, Gefühl des Eroberers) ist das große Thema der neueren psychoanalytischen Forschung.
Vgl. Jones: Das Leben und Werk von Sigmund Freud Bd. 1, S. 22.
Vgl. Rutschky: Lektüre der Seele, S. 125–144.
Arnold Zweig bestätigt demgemäß, daß er der Wiener Literatur als Kunst der »Seelenkenntnis« durch seine Transformation in die Wissenschaft »das Lebenslicht ausgeblasen« habe. Vgl. Sigmund Freud u. Arnold Zweig: Briefwechsel. Hg. v. Ernst L. Freud Frankfurt a. M. 1968, S. 29.
Vgl. Goethe: Briefe an Frau v. Stein. Hg. v. Jonas Fränkel. 2. Bd. (1782–1786) Jena 1908, S. 285.
Zum Vergleich damit stellt sogar der bescheiden altväterliche Versuch von Möbius Ueber das Pathologische bei Goethe die Frage, was Goethe von der zeitgenössischen Medizin gewußt haben kann.
Sulloway: Freud.
Jones: Das Leben und Werk von Sigmund Freud, nennt Leonardo da Vinci, Moses, Shakespeare (Bd. 3, S. 496), Darwin (Bd. 2, S. 150) und Hannibal (Bd. 2, S. 33), ohne daß die Liste damit abgeschlossen wäre.
H. Meng: Goethe und Freud. In: Almanach der Psychoanalyse. Wien 1932, S. 50–52.
Multaretuli: Goethe über die Psychoanalyse (Bericht Eckermanns über ein Gespräch mit Goethe, den 22. März 1832). In: Psychoanalytische Bewegung 4 (1932), S. 386–392; S. 498–504.
Wittels: Goethe und Freud.
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Thomé, H. (1983). Goethe-Stilisierung bei Sigmund Freud. Zur Funktion der enigmatischen Persönlichkeit in der psychoanalytischen Bewegung. In: Richter, K., Schönert, J. (eds) Klassik und Moderne. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03181-5_16
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