Zusammenfassung
Mit der zunehmenden Verflechtung im Prozeß der Zivilisation verändert der soziale Druck. der auf dem Einzelnen liegt. seinen Charakter. Im Zusammenhang mit der durch die Verflechtung verlangten und geförderten Pazifizierung der Gesellschaft verlagert er sich als erhöhte Triebkontrolle ins Innere des Individuums. An die Stelle der äußeren Gewaltanwendung und ihrer beständigen Drohung, in der sich in weniger pazifizierten Gesellschaften der soziale Druck äußert, tritt in zunehmendem Maße die ausgebildete und verstärkte innerpsychische Kontrollinstanz des Über-Ich. Denn die zunehmende Unmöglichkeit der unmittelbaren Triebäußerung für den Einzelnen und die gleichfalls zunehmende Unmöglichkeit, auf den erfahrenen sozialen Druck durch unmittelbare affektive Abfuhr zu reagieren, verlangt vom Einzelnen, seine affektiven Antriebe mit der geforderten Zurücknahme im Verhalten auszugleichen, und erfordert damit eine innerpsychische Kontrolle, die ein >unzivilisiertes< Verhalten von vornherein verhindert. Die aus den sozialen Spannungen erwachsenden Ängste werden ins Innere der Individuen verlagert und wandeln ihre Gestalt; aus der beständigen Angst vor äußerer Gefahr und ihrer Bewältigung durch Entäußerung der Affekte wird die im Inneren des Individuums installierte und in ihm zu bewältigende Angst vor eigenem und fremdem Fehlverhalten.
»Mein Sohn, Ihr blickt ja auf verstörte Weise, Als wäret Ihr bestürzt: Sei guten Muts! Das Fest ist jetzt zu Ende; unsre Spieler, Wie ich euch sagte, waren Geister und Sind aufgelöst in Luft, in dünne Luft. Wie dieses Scheines lockrer Bau, so werden Die wolkenhohen Türme, die Paläste, Die hehren Tempel, selbst der große Ball, Ja, was daran nur teilhat, untergehn; Und, wie dies leere Schaugepräng erblaßt, Spurlos verschwinden. Wir sind solches Zeug Wie das zu Träumen, und dies kleine Leben Umfaßt ein Schlaf.«
W. Shakespeare
»Die Milderung der Gewalt der Leidenschaften findet daher ihren allgemeinen Grund darin, daß der Mensch aus der unmittelbaren Befangenheit in einer Empfindung losgelöst, derselben als eines ihm Aeußeren bewußt wird, zu dem er sich nun auf ideelle Weise verhalten muß. Die Kunst durch ihre Darstellungen befreit innerhalb der sinnlichen Sphäre zugleich von der Macht der Sinnlichkeit.«
G. W. F. Hegel
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Preview
Unable to display preview. Download preview PDF.
Rights and permissions
Copyright information
© 1982 Springer-Verlag GmbH Deutschland
About this chapter
Cite this chapter
Wild, R. (1982). Die entlastende Funktion der Literatur. In: Literatur im Prozeß der Zivilisation. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03170-9_14
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-03170-9_14
Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart
Print ISBN: 978-3-476-00523-6
Online ISBN: 978-3-476-03170-9
eBook Packages: J.B. Metzler Humanities (German Language)