Zusammenfassung
Nestroy ist kein Bürgerkönig gewesen. Er war auch nicht der Bürgerschreck und der Nihilist, zu dem ihn einige moderne Nestroyverehrer machen wollen, sondern eine merkwürdige Mischung von Hanswurst, Denker und Großbürger. Seine enge Zusammenarbeit mit dem Kapitalisten Carl, den man den Totengräber des Volkstheaters zu nennen pflegt, war kein Zufall. Nestroys Aufstieg zu Reichtum, nicht nur zu Wohlhabenheit, nach der Übernahme des Carlstheaters, gegen einen Pachtzins für Carls Erben, ist ein wichtiges Faktum. Er beklagte sich, um Goethes Worte zu gebrauchen, nicht nur über das Niederträchtige, sondern er wußte auch, daß es das Mächtige war. So spielte er nicht nur in den Spelunken um Geld, sondern auch um das große Geld, mit Hilfe des Theaters, das Carl das »gefährlichste industrielle Geschäft« genannt und daher seinen Erben verboten hatte. Nestroy wagte es und hatte Glück im Spiel. Ein anderes Spiel, das er heimlich, aber mit Passion, betrieb, war die von ihm so genannte Mädlerie. Sein leidenschaftlichstes Spiel jedoch war ohne Zweifel die Schauspielerei. In seiner besten Zeit, z. B. im Jahr 1844, das 170 Aufführungen von Nestroy-Stücken erlebte, stand er fast jeden zweiten Abend auf der Bühne [1]. Seine Gastspielreisen führten nicht wie bei Raimund zum Rückzug vom theatralischen Alltag. Er spielte, als er schon reich geworden war, unentwegt weiter. Und als er sich endlich mit fast sechzig Jahren nach Graz zurückgezogen hatte, um sich zu schonen, ließ er sich immer noch zu Gastspielen in Wien verführen. In diesen letzten Jahren (1861) schildert A. Silberstein in der »Österreichischen Zeitung« die noch immer ungebrochene Macht des grandiosen Spielers: »Er hat eine merkwürdige, unerreichte Gabe: durch eine einzige Mundfalte, ein einziges Augenzucken die ganze geistige, ironische Höhe neben der scheinbar tiefstdümmsten Rede anzudeuten… mit seinen agilen Händen und Beinen steht er plötzlich als Sieger über allen und allem auf der Bühne, es liegen, nur dem geistigen Auge sichtbar, Menschen, Dinge, Verhältnisse, kunterbunt durcheinandergeworfen, ihm zu Füßen — der Applaus raset ihn zum Schluß heraus, seine lange Gestalt knickt in zwei Hälften, er lächelt — selbst da weiß man oft nicht: dankt Nestroy wirklich oder ironisiert er das Herausrufen und das Kommen!« [2].
Preview
Unable to display preview. Download preview PDF.
Anmerkungen
Franz H. Mautner, Nestroy, Heidelberg 1974, S. 270.
Otto Rommel, Johann Nestroy, Ein Beitrag zur Geschichte der Wiener Volkskomik, in: Sämtliche Werke, hg. v. Fritz Brukner und Otto Rommel, Bd. 15, Wien 1930, S. 330 f. = HKA, 15 Bde. Wien 1924–1930. Schon 1828 wird er als »Proteus unserer Bühne« gefeiert (Moritz Nekker, Johann Nestroy, in: Ges. Werke, hg. v. Vincenz Chinvacci und Ludwig Ganghofer, Bd. 12, Stuttgart 1891, S. 110).
Jürgen Hein, Nestroyforschung (1901–1966), in: WW, Jg. 18 (1968), S. 234 Anm. 18.
Karl Kraus, Nestroy und die Nachwelt, Frankfurt 1975, S. 14 f.; 27 f., 25 f., 19, 13, 18.
Rio Preisner, Johann Nepomuk Nestroy. Der Schöpfer der tragischen Posse, München 1968.
Otto Basil, Johann Nestroy in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 21975, S. 39.
Franz Koch, Idee und Wirklichkeit, Deutsche Dichtung zwischen Romantik und Naturalismus, Bd. 2, Düsseldorf 1956, S. 181.
Christoph Kuhn, Witz und Weltanschauung in Nestroys Auftrittsmonologen, Diss. Zürich 1966, S. 26 f. Eine vernünftige Zusammenarbeit mit der Linguistik scheint in der Nestroyforschung noch nicht erreicht zu sein. Ich denke an die für den Literarhistoriker kaum verwendbare Dissertation von Olga Stieglitz, Syntaktische Untersuchung der Sprache Johann Nestroys
Kurt Kahl, Johann Nestroy oder der wienerische Shakespeare, Wien, München, Zürich 1970, S. 59.
Ebd.,S. 100, vgl. auch Laurence V. Harding, The Dramatic Art of Ferdinand Raimund and Johann Nestroy. A Critical Study, The Hague, Paris 1974, S. 128 f.
Die Fackel, hg. v. Karl Kraus, 676–813, nach William Edgar Yates, Nestroy, Satire and Parody in Viennese Popular Comedy, Cambridge 1972, S. 53.
Hein, Das Volksstück im 19. und 20. Jahrhundert, in: Theater und Gesellschaft, hg. v. Hein, Düsseldorf 1973, S. 16.
Eckehard Catholy, Art. »Posse«, in: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, hg. v. Werner Kohlschmidt und Wolfgang Mohr, Bd. 3, Berlin 21977, S. 223.
Leo Tönz, Die künstlerische Eigenständigkeit und Eigenart Nestroys, Diss. Wien 1969, S. 195.
Hein, Nestroyforschung, in: WW, Jg. 18 (1968), S. 235.
Johann Nepomuk Nestroy, in: Deutsche Dichter des neunzehnten Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk, hg. v. Benno von Wiese, Berlin 1969, S. 327, 339.
P. M. Potter, Nestroys Zu ebener Erde und erster Stock, a reappraisal, in: Forum for modern language studies, Bd. 13 (1977), S. 142.
Horst Denkler, Restauration und Revolution, Politische Tendenzen im Deutschen Drama zwischen Wiener Kongreß und Märzrevolution, München 1973, S. 190. In dem bereits erwähnten Buch von Erich Joachim May (Wiener Volkskomödie und Vormärz, Berlin 1975), das eine Brücke zwischen dem Volkstheater und dem politischen Vormärz schlagen will, konnte das Buch noch nicht berücksichtigt werden (Mays Buch wurde 1972 abgeschlossen). Es ist aber ein für die heutige Germanistik typischer Spezialisierungfehler, daß der gründliche Joachim May, trotz der erwähnten gesamtdeutschen Interpretationsabsicht, an methodische Vergleiche zwischen deutschen und österreichischen Stücken nicht einmal dachte.
Helmut Arntzen, Dementi einer Tragödie. Zu Hebbels und Nestroys Judith, in: studi germanici, Neue Serie Jg. X, 2 (1972), S. 421.
Mautner, Nestroy, 1974, S. 307.
Nach Mautner, Nestroy, 1974, S. 310.
Mautner, Nestroy, 1974, S. 320.
So Mautner anläßlich des Stücks, Nestroy, 1974, S. 342.
Jahreszahlen nach Max Bührmann, Johann Nepomuk Nestroys Parodien, Diss. Kiel 1933.
Rights and permissions
Copyright information
© 1980 Springer-Verlag GmbH Deutschland
About this chapter
Cite this chapter
Sengle, F. (1980). Johann Nestroy (1801–1862). In: Biedermeierzeit. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03127-3_4
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-03127-3_4
Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart
Print ISBN: 978-3-476-00438-3
Online ISBN: 978-3-476-03127-3
eBook Packages: J.B. Metzler Humanities (German Language)