Zusammenfassung
Die Leiden der Religionisten wurden unzeitgemäß. Die Vollkommenheits- und Glückseligkeitslehren, die die deutsche Aufklärung der Wolffschen Erbmasse entnimmt, entziehen den Tragödien der Skrupelhaften den Boden, um nicht zu sagen die Berechtigung. Die Pathologisierung der religiösen Melancholiker bietet die einfachste Möglichkeit der Erklärung und — vielleicht — der Therapie. Sie verbindet sich fast stets mit einer zweiten, anspruchsvolleren, der Kritik jener Ideologie, der die traurigen Frommen ihre Qualen zu verdanken scheinen. Man brandmarkt den augustinisch-jansenistischen, den puritanischen oder - in Deutschland — den »pietistischen« Geist als Geist der Reaktion, der Unterdrük- kung des hiesigen Glücks, der Weltfeindschaft, als Herd der Melancholie. Gegen ihn bildet sich eine Einheitsfront von aufgeklärten Anthropologen und philosophischen Ärzten, von Moralisten, Theologen und Literaten. Die Melancholie-Diagnose, im Zuge der Erfahrungsseelenkunde noch weiter popularisiert, wird in ihren Händen zu einem topischen Instrument, das alle exzentrischen Abweichungen von der Linie einer toleranten, vernünftigen und praktischen Religion anzeigt.
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Anmerkungen
C. F. Geliert, Sämmtliche Schriften, 10 Tle., Reuttlingen 1774–1776, Bd. VIII, S. VIII und 5.
Vgl. K. O. Frenzel, Über Gellerts religiöses Wirken, Diss. Leipzig 1894, S. 26 ff.;
K. May, Das Weltbild in Gellerts Dichtung, Frankfurt a. M. 1928, S. 102 ff.
siehe J. W. Smeed, Jean Paul und die Tradition des theophrastischen »Charakters«, in: Jb. d. Jean-Paul-Gesellschaft 1, 1966, S. 53–77.
C. F. Geliert, Die Betschwester, hrsg. v. W. Martens, Berlin 1962 [= Komedia 2], S. 71).
H. Hettner, Geschichte der deutschen Literatur im achtzehnten Jahrhundert, 8. Aufl., Braunschweig 1929, I, S. 246. freilich läßt Hettner ein energisches Plädoyer für Geliert folgen.
G. F. Meier, Philosophische Sittenlehre, Bd. I, 2. Aufl., Halle 1762, S. 40.
Chr. L. Liscov, Schriften, hrsg. v. C. Müchler, 3 Bde., Berlin 1806 [Nachdruck Frankfurt a. M. 1972], Bd. I, S. XXX-XXXII; vgl. auch Bd. II, S. 103 f. und 183 ff.)
J. M. v. Loën, Der redliche Mann am Hofe, Faksimiledruck nach der Ausg. v. 1742, Stuttgart 1966, S. 191 ff. und 227 ff.
G. E. Lessing., Ges. Werke in 10 Bänden, hrsg. v. P. Rilla, 2. Aufl., Berlin u. Weimar 1968, Bd. V, S. 29)
Vgl. F. W. Kantzenbach, Protestantisches Christentum im Zeitalter der Aufklärung, Gütersloh 1965, S. 181 ff.
2. Edelmann und Semler. Kritische Erfahrungsseelenkunde. Hallers Tagebuch
J. C. Edelmann, Selbstbiographie. Geschrieben 1752, hrsg. v. C. R. W. Klose, Berlin 1849.
J. F. Abel, Erläuterungen wichtiger Gegenstände aus der philosophischen und christlichen Moral, besonders der Ascetik durch Beobachtungen aus der Seelenlehre, Tübingen 1790, S. 202.
R. Burton, The Anatomy of Melancholy, 3 Bde., London-New York 1964, Bd. III, S. 311 ff.
(J. W. L. v. Luce, Versuch über Hypochondrie und Hysterie, Gotha-St. Petersburg 1797, S. 32 f.)
A. v. Haller, Briefe über die wichtigsten Wahrheiten der Offenbarung, verm. u. verb. Aufl., Bern 1780, S. 36.
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Schings, HJ. (1977). Kritik der Melancholie. In: Melancholie und Aufklärung. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03074-0_7
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