Zusammenfassung
[97] Es sind jezt dreyßig Jahre, daß der Kaufmannssohn Wilhelm Meister mit einigen Edelleuten auf vertrautem Fuße gelebt, ja es erreicht, eine Gräfin und ihre Brillanten an sein bürgerliches Herz zu drücken. Wie waren wir damals so hoffnungsfroh, die Deutschen würden ihr Glück machen und es weit bringen im Leben und in Romanen. Aber was sind unsere Hoffnungen, was ist aus all der Herrlichkeit geworden? Der Lehrbrief, den der junge Meister aus den Lilienhänden der schönen Erfahrung empfing, war auf Seidenpapier geschrieben, verduftete und verwelkte, wie die Blume, und ließ nichts zurück, als dürre Blätter, die unter den Fingern zerstäuben. Wenn Goethe’s Grundsatz wahr ist: der Held eines Romans müsse sich sehr leidend verhalten, müsse sich alles gefallen lassen, und dürfe nicht muksen — warum haben wir denn keine guten Romane, da wir doch Alle geborne Romanhelden sind? Wir haben keine, weil der Grundsatz wahr ist. Um etwas zu erfahren, muß man etwas thun; wir müssen gehen, daß uns etwas begegne. Wir einregistrirten Menschen aber, wir Hochgeborne, Hochwohlgeborne, Wohlgeborne, Edelgeborne und Dienstgeborne Menschen, welchen das Herz klopft, so oft wir an eine fremde Thüre klopfen; wir in unserem Gefach-Leben verlassen nie den Stand und die Zunft, in welchem die Wiege unserer Eltern gestanden, und Stände und Zünfte sind zwar größere Familien, aber auch lauere, unerquicklichere, und sie sind unkünstlerischen Stoffes. Weil wir unsern Lebenskreis nicht überschreiten, erfahren wir auch nicht, was sich innerhalb des Kreises begibt; denn man muß Andre kennen lernen, um sich selbst zu kennen.
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Nachweise und Anmerkungen
Goethe’s Grundsatz: Vgl. »Wilhelm Meisters Lehrjahre«, Buch V, Kap. 7 (vgl. hier S. 6 und die Anm. dazu); Börne paraphrasiert verfälschend.
Botanibayer Spitzbuben: In Botany Bay, einem Hafen im Südosten Australiens, landeten seit 1788 die englischen Aussiedlertransporte, die auch zahlreiche Verbrecher mitbrachten.
Kreidling: Mensch von ungesunder, blasser Farbe, stumpfsinnig, ohne Verstand; Kretin
dem Andern: verbessert aus: den Andern (nach W)
schon alles: verbessert aus: schon alle (nach W)
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Börne, L. (1976). Aus: Cooper’s Romane 1825. In: Romantheorie und Romankritik in Deutschland. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03055-9_7
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