Zusammenfassung
[144] Der soziale Roman wird das neue Epos sein, das die verjüngte Menschheit an die Stelle der alten Kunstform setzt; unsere Zeit des Uebergangs kann nichts mehr thun, als soziale Kritik schreiben. Auch der jetzt versuchte soziale Roman wird nur eine Kritik in poetischer Torm sein können. Alle Kunst beruht auf der Vergangenheit, der Stoff, den sie verarbeitet, muß hinter ihr liegen. Die Lyrik und die Musik machen scheinbar eine Ausnahme, aber auch nur scheinbar; man hat sie die revoluzionären Künste genannt, und hat darin Recht gehabt, weil sie eben das aussprechen, vernehmlich und deutlich aussprechen, was erst in den Gemüthern, in der Stimmung liegt ohne bereits zur That geworden zu sein; aber in den Gemüthern ist denn doch der Stoff der Lyrik und der Musik [145] bereits vorhanden. Das Epos und seine neue Form, der Roman, verlangen am vollständigsten einen positiven Hintergrund, Geschichte; sie beschreiben ja nur, sie erfinden nicht, sie kopiren nur, schreiben kein Original. Wie wäre es nur möglich, in heutiger Zeit schon einen sozialen Roman zu dichten, da noch keine soziale Welt vorhanden ist. Der Roman, welcher sich heute sozial nennt, wird daher nichts weiter sein, als ein Roman der unsozialen Welt, in welchem aber dieser Charakter der Unsozialität zum Bewußtsein kommt. Das haben die Mystères de Paris versucht, Eugen Sue schildert die alte Welt, die verkommene und verdorbene Welt; aber mit kritischem Bewußtsein und mit Fingerzeigen in die neue Welt hinein. Die Kritik mußte nothwendig der Poesie Eintrag thun, der Dichter mußte rhetorisch, ja didaktisch, ja vollständig reflektirend werden.
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Grün, K. (1976). Aus: Ein Urtheil über die »Geheimnisse von Paris« 1845. In: Romantheorie und Romankritik in Deutschland. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03055-9_46
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Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart
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