Zusammenfassung
Wenn sich nun Ariosto mehr gegen das Mährchenhafte der Abentheuerlichkeit hinwendet, so bildet Cervantes dagegen das Romanhafte aus. In seinem Don Quixote ist es eine edle Natur, bei der das Ritterthum zur Verrücktheit wird, indem wir die Abentheuerlichkeit desselben mitten in den festen, bestimmten Zustand einer ihren äußeren Verhältnissen nach genau geschilderten Wirklichkeit hineingesetzt finden. Dieß giebt den komischen Widerspruch einer verständigen, durch sich selbst geordneten Welt und eines isolirten Gemüthes, das sich diese Ordnung und Festigkeit erst durch sich und das Ritterthum, durch das sie nur umgestürzt werden könnte, erschaffen will. Dieser komischen Verirrung zum Trotz ist aber im Don Quixote ganz das erhalten, was wir vorhin bei Shakespeare rühmten. Auch Cervantes hat seinen Helden zu einer ursprünglich edlen, mit [215] vielseitigen Geistesgaben ausgestatteten Natur gemacht, die uns immer zugleich wahrhaft interessirt. Don Quixote ist ein in der Verrücktheit seiner selbst und seiner Sache vollkommen sicheres Gemüth, oder vielmehr ist nur dieß die Verrücktheit, daß er seiner und seiner Sache so sicher ist und bleibt. Ohne diese reflexionslose Ruhe in Rücksicht auf den Inhalt und Erfolg seiner Handlungen wäre er nicht ächt romantisch, und diese Selbstgewißheit, in Ansehung des Substantiellen seiner Gesinnung, ist durchaus groß und genial mit den schönsten Charakterzügen geschmückt. Ebenso ist das ganze Werk einer Seits eine Verspottung des romantischen Ritterthums, durch und durch eine wahrhafte Ironie, während bei Ariosto die Abentheuerlichkeit gleichsam nur ein leichtfertiger Spaß bleibt; anderer Seits aber werden die Begebenheiten Don Quixote’s nur der Faden, auf dem sich aufs Lieblichste eine Reihe ächt romantischer Novellen hinschlingt, um das in seinem wahren Werth erhalten zu zeigen, was der übrige Theil des Romans komisch auflöst.
Rights and permissions
Copyright information
© 1976 Springer-Verlag GmbH Deutschland
About this chapter
Cite this chapter
Hegel, G.W.F. (1976). Aus: Vorlesungen über die Aesthetik 1818/29. In: Romantheorie und Romankritik in Deutschland. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03055-9_2
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-03055-9_2
Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart
Print ISBN: 978-3-476-00324-9
Online ISBN: 978-3-476-03055-9
eBook Packages: J.B. Metzler Humanities (German Language)