Kunst und Sittlichkeit

Zusammenfassung

In einem Brief an Schiller vom 7. Oktober 1791 bekennt sich Novalis zu dessen Rezension über Bürger, die in der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung vom 15. und 17. Januar 1791 anonym erschienen war. Bei der letzten Lektüre sei ihm Schillers Urteil »noch zu gelind vorgekommen; da wenigstens der Maßstab, den Sie darin, nicht, wie viele getan haben, von der Erfahrung mehrerer Jahrhunderte abstrahierten, sondern ihn a priori aus einem den Gesetzen der Sittlichkeit korrespondierenden Gesetze aufstellten […], sich zu den meisten von Bürgers Gedichten nicht harmonisch verhält« (IV¹. 29). Und er fährt begeistert fort: »O! ich lerne immer mehr einsehn, daß nur moralische Schönheit, je absichtsloser sie bewirkt zu sein scheint, den einzig unabhängig wahren Wert eines jedweden Werks des dichterischen Genies ausmacht«. Bereits der neunzehnjährige Novalis bekundet seine Aufgeschlossenheit für eine Fragestellung, die nicht allein Schiller in den folgenden Jahren beinahe ausschließlich beschäftigte, der vielmehr die theoretischen Bemühungen im letzten Jahrzehnt des achtzehnten Jahrhunderts vorzüglich galten: wie kann Kunst auf Sittlichkeit bezogen werden? Kant hatte die Frage im § 59 der Kritik der Urteilskraft gestellt, Schiller verfolgt sie in allen seinen theoretischen Schriften seit der Bürger-Rezension, Hölderlin kritisiert u. a. in dem spätestens im November 1794 verfaßten Fragment Ober das Gesetz der Freiheit die Kantische wie die Schillersche Position. Es wird zu zeigen sein, daß des Novalis Interesse an demselben Gegenstand sich nicht nur in jenem Zeugnis früher Schiller-Begeisterung artikuliert, sondern auch in seinen späteren Aufzeichnungen und Fragmenten und nicht zuletzt im Ofterdingen-Roman. Zu prüfen ist dabei vor allem, inwieweit sich seine Versuche, das Verhältnis von Sittlichkeit und Kunst zu bestimmen, an der Theorie Schillers orientieren, die darzustellen einen Rückgriff auf die Kritik der Urteilskraft erforderlich macht.