Zusammenfassung
Ist denn in der That das Leben um uns herum so arm an interessanten Gestalten, an erschütternden Begebenheiten, ja auch an großartigen Leidenschaften? Ueberall, — in fast jedem Kreise menschlicher Thätigkeit, in jeder Gegend des Vaterlandes, strömt trotz Allem und Allem das Leben doch immer so reichlich und so energisch, daß es einem Menschen, der Darstellungstalent hat und sich die Mühe nehmen will, das Leben selbst kennen zu lernen, nie und nirgend an den interessantesten Anregungen, Eindrücken und Motiven fehlen kann. Grade heraus, was uns fehlt, sind nicht die Bilder des Lebens, welche der Dichter zu verarbeiten hat, sondern die Dichterkraft, Augen, welche das Leben anzusehen wissen, Bildung, welche dasselbe versteht und Schönheitssinn, der dasselbe zu idealisiren weiß. Wenn doch nur einer von all den Romanen, welche im letzten Jahr in Deutschland geschrieben sind, uns das tüchtige, gesunde, starke Leben eines gebildeten Menschen, seine Kämpfe, seine Schmerzen, seinen Sieg so darzustellen wüßte, daß wir eine heitere Freude daran haben könnten. Wir haben doch in der Wirklichkeit eine große Anzahl tüchtiger Charaktere unter unsreri Landwirthen, Kaufleuten, Fabrikanten u.s.w., deren Lebenslauf und Verhältnisse dem, der sie kennen lernt, das höchste menschliche Interesse einflößen; warum haben wir keinen Dichter, der Analoges für ein Kunstwerk verarbeitete? Und diese großen Kreise menschlicher Thätigkeit selbst, der Landbau, der Handel, die Industrie, bilden die Grundlage für so unzählig viele höchst interessante und auffallende Beziehungen der Menschen zu einander, für die erschütterndsten Leidenschaften und die allermerkwürdigsten Verwickelungen; warum haben unsre Dichter keine Feder, uns solche Erscheinungen der Wirklichkeit mit künstlerischer Wahrheit und Schönheit darzustellen? Die Antwort darauf ist leider, weil unsre Romanschriftsteller in der Mehrzahl sehr wenig, ja zuweilen so gut wie nichts von unsrem eigenen Leben, von dem Treiben der Gegenwart verstehen.
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Bucher, M., Hahl, W., Jäger, G., Wittmann, R. (1975). Realismus und Bürgertum: Das sittliche Prinzip in der Darstellung der Arbeitswelt. In: Bucher, M., Hahl, W., Jäger, G., Wittmann, R. (eds) Realismus und Gründerzeit. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03017-7_7
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-03017-7_7
Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart
Print ISBN: 978-3-476-00267-9
Online ISBN: 978-3-476-03017-7
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