Zusammenfassung
[…] Wir haben bisher nur von den äußeren Schwierigkeiten gesprochen, mit welchen das Drama der Gegenwart bei uns zu kämpfen hat: aber wie wäre es denn, wenn es für eine Zeit, wie die unsere, auch eine innere Unmöglichkeit wäre, ein wirkliches Drama zu erschaffen? Daß das Drama überhaupt die höchste Kunstform ist, darüber ist die Aesthetik seit langem einig; selbst auch in das große Publikum ist ein gewisses instinktartiges Gefühl davon gedrungen, so daß wir uns bei dem Nachweis dieses Satzes nicht erst aufzuhalten brauchen. Dieser höchsten und vollendetsten Form aber kann, in nothwendigem Zusammenhange, nur eine Zeit und ein Geschlecht mächtig werden, das zuvor auch seines eigenen Inhalts mächtig ist; nur dem vollendeten Inhalt gebührt die vollendete Form. Wie der einzelne Dichter seiner Ideen erst vollkommen Herr sein, wie sie sich ihm zu harmonischer Fülle erst völlig abgeklärt und beruhigt haben müssen, bevor er sie als poetische Gestalten von sich ablösen und sie zu eigenem künstlerischen Dasein erwecken kann: so muß auch der treibende Genius einer Zeit sich erst vollkommen abgeklärt, muß sich erst im praktischen Leben des Volks erfüllt und verkörpert haben, bevor er durch den Mund des Dichters auch den höchsten künstlerischen Ausdruck gewinnen kann, der überhaupt zu Gebote steht. Sehen wir doch nur in die Geschiche, zu welchen Zeiten die dramatische Kunst bei den verschiedenen Völkern in der höchsten Blüthe gestanden, unter welchen politischen und geselligen Verhältnissen sie ihre reifsten Früchte entwickelt hat. In Zeiten der Unruhe und des Krieges etwa? in Zeiten nationalen Drängens und Strebens? Ganz im Gegentheil: in Zeiten, daß wir es so ausdrücken, der Sättigung und des Wohlbehagens, in solchen Zeiten, wo eine bestimmte geistige Richtung im Leben des Volks zu voller, widerstandsloser Herrschaft durchgedrungen war, und nun in schönem Behagen sich ihres Sieges und ihrer Machtentfaltung freute.
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Bucher, M., Hahl, W., Jäger, G., Wittmann, R. (1975). Staat, Gesellschaft und Drama nach 1848. In: Bucher, M., Hahl, W., Jäger, G., Wittmann, R. (eds) Realismus und Gründerzeit. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03017-7_39
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-03017-7_39
Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart
Print ISBN: 978-3-476-00267-9
Online ISBN: 978-3-476-03017-7
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