Zusammenfassung
Der Erfolg der Dorfgeschichten war ein erfreuliches Zeichen unserer Sehnsucht nach Realität. Man gewöhnte sich daran, mit Menschen umzugehen, die noch eine andere Beschäftigung hatten, als die Lectüre der Modejournale und die Fabrik von Sonetten; eine festere, concretere Bestimmtheit, als die poetische Doctrin. Man gewöhnte sich, die Charaktere, die man bisher nur in liederlich genialer Skizze entworfen, in breiter äußerlicher Explication zu verfolgen. Man faßte die Volkstümlichkeit nicht im Sinne der »Aufklärung«, wo man sich herablassen zu müssen glaubte, um dem »dummen Volk« allmälig die Weisheit der studirten Leute beizubringen, sondern umgekehrt, mit dem Trieb, zu lernen, aus einer nicht eingebildeten, sondern in concreten, geschichtlichen Formen erscheinenden Natur neuen Lebenssaft für das allzu matt pulsirende Blut der Kunst zu saugen. Die Naturpoesie ist nicht nur verschieden, sondern gerade der Gegensatz zu der idealen Natur, welche Rousseau, Werther und ihre Zeitgenossen suchten, so verschieden, wie Möser’s Patriotische Phantasien vom Gesellschaftsvertrag [1]. — Aber wir leiden selbst in unserer Naturpoesie an falschem Idealismus; wir trennen das Ideal oder die Wirklichkeit, in der wir das Ideal suchen, von der gewöhnlichenWirklichkeit. Die Bilder des harmonischen Dorflebens verstimmen uns noch mehr gegen die uns umgebende verworrene Welt. Wir haben vom süßen Gift der Civilisation so viel gekostet, daß wir für uns den Naturzustand nicht mehr benutzen können; wir können in einer Schwarzwälder Bauernhütte ebensowenig leben, als in einem Kraal am Ufer des Orangeflusses; wir haben also das gelobte Land beständig vor Augen und können nicht hinüber. So hat unsere Naturpoesie immer einen doctrinären Anstrich. […]
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Anmerkungen
Jean Jacques Rousseau: Du Contract social, ou Principes du droit politique, 1762.
W. H. Riehl: Die bürgerliche Gesellschaft, 1851, S. 35.
Ferdinand Freiligrath: Dorfgeschichten. An Berthold Auerbach, geschr. im November 1843, veröff. in Freiligrath: Ein Glaubensbekenntniβ. Zeitgedichte, 1844.
Jeremias Gotthelf (d. i. Albert Bitzius): Erzählungen und Bilder aus dem Volksleben der Schweiz, 5 Bde., 1850–55.
Oliver Goldsmith: The Vicar of Wakefield, 1766.
Ottilie Wildermuth (1817–1877), schwäbische Erzählerin, Jugendschriftstellerin und Verfasserin von Lebensbildern. Hier Anspielung auf die Bilder und Geschichten aus dem schwäbischen Leben, 1852.
Christoph von Schmid (1768–1854), kath. Theologe, bedeutender Jugendschriftsteller.
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Bucher, M., Hahl, W., Jäger, G., Wittmann, R. (1975). Gesellschaftlicher Konservatismus im Nachmärz. In: Bucher, M., Hahl, W., Jäger, G., Wittmann, R. (eds) Realismus und Gründerzeit. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03017-7_16
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