Zusammenfassung
Ihre wohlwollend eindringende Auffassung einiger von mir in Zeitschriften veröffentlichten Dorfgeschichten [1] war die Veranlassung, daß ich der so eben erschienenen Gesammtdarstellung [2] keine Vorrede vorausschickte; es war mir eine wahrhafte Erquickung, mich in meinen Bestrebungen so von einem Manne erkannt zu sehen, den ich persönlich nicht kenne. Dennoch möchte ich sowohl Ihnen als dem Publikum noch Manches über das genannte Werk sagen, und ich wähle hierzu die Form eines offenen Briefes. Sie mahnen mich an Immermann, und wie ich es schon anderwärts gethan, bringe ich dem wackern Verstorbenen gern hier nochmals meinen Dankeszoll; ich bekenne gern, daß mich der Vorgang Immermanns ermuthigt [3], wenn gleich nicht zuerst angeregt hat, das Volksleben in seiner Selbständigkeit zum Gegenstande der Dichtung zu machen. Unsere Zeit ist berufen, die sogenannte Masse in selbständige Individualitäten aufzulösen. Nicht mehr bloß diejenigen, die auf eine Höhe der Bildung oder der Macht gestellt sind, repräsentiren das Zeitleben und seine Konflikte. Das Pulver hat die Tapferkeit einzelner hervorragender Persönlichkeiten aufgehoben, das Maschinenwesen hat die Handgeschicklichkeit Einzelner aufgelöst; nun tritt die allgemein menschliche Bildung ein und hebt den letzten Rest der Bevorzugungen auf: das Schicksal der Nationen ist nicht mehr von einzelnen Bannerträgern abhängig, sondern in unzähligen Individualitäten macht sich das Zeitbewußtseyn geltend. Erst dadurch wird es wahrhaft und unverwüstlich zum Zeitbewußtseyn. Wir dürfen uns nicht irren lassen durch den Aberwitz lächerlicher Gleichheitsmacher; wir dürfen uns die heilige Aufgabe der Zeit dadurch nicht entweichen und aus den Händen reißen lassen. Nicht der Besitz und die Macht, sondern der Geist allein macht frei und gleich; nicht die Überhebung über Standes- und Gewerbsunterschiede, sondern die rein menschliche Erhebung in denselben ist das Ziel der sittlichen Freiheit und Bildung.
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Anmerkungen
s. J. E. Braun: Ein Phänomen in der neuesten Literatur. In: Europa, Jg. 1843/1, S. 127–34.
W. Zimmermann: Der Roman der Gegenwart und Eugen Sue’s Geheimnisse. In: Jahrbücher der Gegenwart, Jg. 1844, insbes. S. 101–02.
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Bucher, M., Hahl, W., Jäger, G., Wittmann, R. (1975). Dorfgeschichte und Nationalgedanke im Vormärz. In: Bucher, M., Hahl, W., Jäger, G., Wittmann, R. (eds) Realismus und Gründerzeit. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03017-7_14
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