Zusammenfassung
Zum stärksten Oxymoron, das sich mit den Fachtermini der europäischen Liebeslyrik bilden läßt, hat Gerhard Kaiser gegriffen, um das dritte Gedicht von Goethes Sonettenzyklus zu kommentieren: In ihm spreche „ein Troubadour moderner Erlebnislyrik“1. Was ließe sich von den historisch-gesellschaftlichen Bedingungen, vom Dichtungsverständnis und auch von der Auffassung der Liebe her weniger vereinbaren als Troubadour- und Erlebnislyrik? Die rollenkonventionelle öffentliche Gesellschafts- und Variationskunst auf der einen Seite, auf der anderen die Forderung nach authentisch subjektiver Einmaligkeit, dort die Lehrtradition rhetorisch-poetischer Schemata, hier der Anspruch des individuellen Kunstwerks, im Privaten symbolisch das Allgemeine sehen zu lassen. Herausgefordert wird Kaisers Oxymoron durch eine ironisch widersinnige Konstruktion, die eine konventionelle Entbehrungsklage der Liebe als Selbstversuch zur Erlebnissteigerung vorführt. Das dritte der insgesamt siebzehn zum Zyklus gereihten Sonette ist das Selbstgespräch eines Liebhabers, der sich aus der Sorge, sein Gefühl könne durch Gewöhnung vergehen, entschließt, seiner Geliebten für einen Tag fernzubleiben und darüber ein Klagegedicht zu verfassen. Kaiser deutet dies werkgeschichtlich als spöttische Replik des älteren Goethe (der Sonettenzyklus stammt von 1807/08) auf das eigene Jugendkonzept der Erlebnislyrik. Statt der Umsetzung des Lebens zum Gedicht zeige sich hier umgekehrt die Schaffung eines Erlebnisses durch literarische Konvention. Die Selbststilisierung des entbehrenden Liebhabers, wie sie von den Trobadors und dann im Petrarkismus als lyrische Künstlichkeit entwickelt ist, soll den Verlust des lebendigen Gefühls verhindern.
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Notizen
Gerhard Kaiser: Augenblicke deutscher Lyrik. Gedichte von Martin Luther bis Paul Celan, interpretiert durch G. K. Frankfurt a. M. 1987, S. 213.
Vgl. August Wilhelm Schlegel: Geschichte derromantischen Literatur (1802/03). Stuttgart 1965 (A.W. S.: Kritische Schriften und Briefe IV.), S. 193 f.
Zitiert wird nach der Ausgabe: Francesco Petrarca: Canzoniere. Testo critico e introduzione di Gianfranco Contini. Annotazioni di Daniele Ponchiroli. Torino 1982 (Nuova Universale Einaudi 41). Nachweise im fortlaufenden Text durch Gedicht- und Versnummern.
Gottfried August Bürger: Sämtliche Werke. Hrsg. von Günter und Hiltrud Häntzschel. München 1987, S. 16.
Vgl. August Wilhelm Schlegel: Bürger (1800). In: A. W. S.: Sämmtliche Werke. Hrsg. von Eduard Böcking. Bd. VTQ: Vermischte und kritische Schriften. 2. Bd. Hildesheim, New York 1971, Neudruck der Ausgäbe Leipzig 1846, S. 64–139; hier S. 132: „Bürger hat das Verdienst, das bei uns gänzlich vergeßene und nach lächerlichen Vorurtheilen verachtete Sonett zuerst wieder zu einigen Ehren gebracht zu haben. Indessen zeigt sowohl seine Behandlung desselben, als was er in der Vorrede darüber sagt, daß er die Gattung nicht aus der Betrachtung ihres wahren Wesens begriffen hatte.“ Tadel an Bürger auch in Schlegels Vorlesung zum Sonett; vgl. Anm. 2, S. 186.
Vgl. August Wilhelm Schlegel: Ueber Shakespeare’s Romeo und Julia. In: Die Hören. Jg. 1797. Sechstes Stück. Tübingen 1797, Neudruck Darmstadt 1959, S. 18–48; hier S. 45 f. Es handelt sich um einen Exkurs, der von Shakespeares Wortspielen aus zu Petrarcas Gedichten kommt.
August Wilhelm Schlegel: Das Sonett. In: A. W. S.: Sämmtlicbe Werke. Hrsg. von Eduard Böcking. Bd. I: Poetische Werke. 1. Theil. Hildesheim, New York 1971, Neudruck der Ausgabe Leipzig 1846, S. 304.
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Matuschek, S. (1999). Was ist ein ‚Troubadour der Erlebnislyrik‘?. In: Keller, W. (eds) Goethe-Jahrbuch. Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger Weimar, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02973-7_5
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