Zusammenfassung
Die Begehung der Großstadt, genauen die Er-fahrung und Bereisung det Metropolis als Text ist eine genuine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Die schon früher in der auktorialen Selbsdegitimierung allgegenwärtige Raummetaphorik des Gehens, Fahrens, Bewegens in der Stadt wird erst hier vom poetologischen Topos zum bestimmenden texterzeugenden Prinzip ihrer Beschreibung. Nicht nur wird die Großstadt als plastisch-konkreter, kontinuierlicher Realraum in seiner umfassenden soziakäumlichen Gliederung textlich generiert Die Großstadt erfordert fortan auch eine paradigmatisch neue Raumpraxis, in der das wahrnehmende Subjekt (als subjektive Textinstanz) durch seine kontinuierliche Bewegung im Stadtraum gekennzeichnet ist.
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Notizen
Volker Klotz, Die erzählte Stadt Ein Sujet als Herausforderung des Romans von Lesage bis Döblin. Mit 10 Abbildungen, München 1969.
J. Hillis Miller, Topographies, Stanford 1995.
Henri Lefebvre, La production de l’espace, Paris 1974.
James Donald, Imagining the Modem City, Minneapolis 1999, S. 123.
Donald, Imagining the Modern City, S. 123.
Vgl. Friedlich Nicolai, Beschreibung der königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam [1786], in: Ders., Sämtliche Werke, Briefe, Dokumente. Kritische Ausgabe mit Kommentar, hrsg. v. P. M. Mitchell u.a., Bd. 8, I: Historische Schriften I, Bern u.a. 1995, S.16.
E.T.A. Hoffmann, Des Vetters Eckfensters, in: Ders., Hoffmanns Werke, Bd.2, Leipzig / Wien 1896, S.391.
Vgl. hierzu und zum Folgenden Thorsten Sadowsky, Gehen Sta(d)t Fahren. Anmerkungen zur Urbanen Praxis des Fußgängers in der Reiseliteratur um 1800, in: Wanderzwang — Wanderlust Formen der Raum- und Sozialerfahrung zwischen Aufklärung und Frühindustrialisierung, hrsg. v. Wolfgang Albrecht und Hans-Joachim Kertscher, Tübingen 1999, S. 61–90.
Nicolai, Beschreibung der königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam, S. 16.
Johann Kaspar Riesbeck, Briefe eines reisenden Franzosen über Deutschland. An seinen Bruder in Paris, 2 Bde., 2. Aufl., Zürich 1784, Bd. 1, S. 15.
Riesbeck, Briefe eines reisenden Franzosen über Deutschland, Bd. 1, S.210.
Karl Gottlieb Küttner, Reise durch Deutschland, Dänemark, Schweden, Norwegen und einen Theil von Italien in den Jahren 1797, 1798, 1799, 4 Bde., 2., verbesserte Aufl., Leipzig 1804, Bd.3, S.355.
Riesbeck, Briefe eines reisenden Franzosen über Deutschland, Bd.1, S.284: „Allein es genießt ihn [den Augarten, K. M.-R.] nur der feinere Theil des Publikums, und der Pöbel fühlt selbst, daß er hier in einem schlechten Lichte steht Er schließt sich selbst aus, und thut wohl daran.“
Vgl. Philipp Ludwig Hermann Roeder, Reisen durch das südliche Teutschland, 3 Bde., Leipzig / Klagenfurt / Ulm 1789–1793, Bd.1, S.338: „Nach dem Kleide, welches sonst ein noch so ziemlich schwerer Schild ist, an welchem man Vornehme und Geringe und Personen von Stande vom Pöbel unterscheiden kann, kann er [der Reisende, K.-M.-R.] hier niemand erkennen, denn alles maskiert sich.“ Vgl. auch Julius Friedrich Knüppeln, Vertraute Brief zur Charakteristik von Wien, 2. Bde., Görlitz 1793, Bd. 1, S. 145: „Nach dem Kleide kann man hier Niemand rangiren, und eben so wenig nach der Art des Betragens […]. Die Markeurs und Kellnerburschen, sieht man an den Sonn- und Festtagen, im größten Staat, sie wissen die Rolle des vornehmen Herrn meisterhaft zu spielen.“
Hedwig Voegt, Einleitung, in: Georg Friedrich Rebmann, Werke und Briefe, Frankfurt a. M. 1968, S.10f.
Georg Friedrich Rebmann, Kosmopolitische Wanderungen durch einen Teil Deutschlands [1793], in: Ders., Werke und Briefe in drei Bänden, hrsg. v. Hedwig Voegt u.a., Berlin 1990, Bd. 1, S.59–155.
Ebd., S. 98.
Vgl. Peter Stallybrass / Allon White, The Politics and Poetics of Transgression, Ithaca, New York 1986.
Wolfgang Maderthaner / Lutz Musner, Die Anarchie der Vorstadt. Das andere Wien um 1900, Frankfurt / New York 1999, S.85.
Braun von Braunthal, Stehende Masken im Lustspiele des Lebens. In 12 Fresco-bildern, Wien 1837, S.8.
Braun von Braunthal, Antithesen; oder Herrn Humors Wanderungen durch Wien und Berlin, Wien 1834, S.62f.
Adalbert Stifter, Vorrede, in: Ders., Sämmtliche Werke, hrsg. v. Gustav Wilhelm, Bd. 15, Reichenberg 1935, S.19. Im folgenden werden Zitate aus diesem Band im Fließtext belegt
Georg Simmel, Soziologie des Raumes, in: Ders., Gesamtausgabe, hrsg. v. Ottheim Rammstedt, Bd.7, Frankfurt a.M. 1995, S. 132–183 (133).
Jonathan Crary, Suspension of Perception. Attention, Spectacle, and Modern Culture, London 1999, S.1.
Thomas W. Laqueur, Bodies, Details, and the Humanitarian Narrative, in: Lynn Hunt (Ed.), The New Cultural History, Berkeley 1889, S. 176–204.
Vgl. Wulf Wülfing, Reisebericht im Vormärz. Die Paradigmen Heinrich Heine und Ida Hahn-Hahn, S. 333–363.
F.S. Schwarzbach, „Terra Incognita“ — An Image of the City in English literature, 1820–1855, in: Philip Dodd (ed.), The Art of Travel, London 1982, S.61–84; Kurt Tetzli von Rosador, Into Darkest England. Discovering the Victorian Urban Poor, in: Journal for the Study of British Cultures, 4,1 /2 (1997), S. 129–144.
Henry Mayhew, London Labour and the London Poor. A cyclopaedia of the condition and earnings of those that will work, those that cannot work, and those that will not work, Vol.1: The London Street-Folk, London 1851, S. iii.
Konkret verweist Mayhew auf James Prichards Natural History of Man, worin die „wandering tribes“ als eine „race“ bezeichnet werden, die weder ganz den „nomads“ noch ganz den „settlers“ zuzuordnen sind, genauer, als Parasitärform der Zivilisation auftreten. Vgl. James Prichard, Natural History of Man. Comprising inquiries into the modifying influence of physical and moral agencies on the different tribes of the human family, London 1843. Mayhew und Prichard waren ruhrende Mitglieder der 1843 gegründeten London Ethnological Society.
Mayhew, London Labour, S.2.
Mayhew, London Labour, S. 2.
Schwarzbach (Terra incognita, S. 78) weist in diesem Zusammenhang auf die erstaunliche Detaillierung von Körperreaktionen hin (shock, nausea, vomiting), die zur Dramatisierung und Beglaubigung der visuellen und olfaktorischen Eindrücke den Schilderungen beigefugt werden.
Mayhew, London Labour, S. iii [Herv. K. M.-R.].
Henry Mayhew / John Binny, The Criminal Prisons of London and Scenes of Prison Life. With Numerous Illustrations from Photograph, London 1862, S.4.
Eclectic Review (44) 1851, S.424f.
Ich nenne einige Beispiele: James Greenwood, The Wilds of London (London, 1874], New York 1985; John Thompson / Adolphe Smith, Street life in London, London 1877; George Robert Sims, How the poor live, London 1883; William Barry, The New Antigone, London 1887; William Booth, In darkest England and the way out, London / New York 1890; Margaret Elise Harkness, In darkest London:A Story of the Salvation Army, London 1891.
Franz Grillparzer, Der arme Spielmann, in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 3, hrsg. v. Peter Frank und Karl Pörnbacher, München 1964, S. 150.
Friedrich Schlögl, „Wiener Blut“. Kleine Culturbilder aus dem Volksleben der alten Kaiserstadt an der Donau, Wien 1873, S.3.
Schlögl, „Wiener Blut“, S.290. Schlögl begründet seine Beschäftigung mit der Unterschicht wie folgt: „Der professionelle Naturforscher [muß] sich nicht nur mit zierlichen Schmetterlingen [beschäftigen], sondern den unappetitlichen Thierchen die gleiche anatomisierende Aufmerksamkeit“(S.3) schenken.
Vorformen bzw. Abformen einer Idee der teilnehmenden Beobachtung als Prinzip der unmittelbaren „Vor-Ort“-Erfahrung sind bereits in der Mitte des Jahrhunderts formuliert worden. So macht etwa Stifter die Legitimität des Urteils und die Wahrhaftigkeit der Erfahrung davon abhängig, dass das Erfahrungssubjekt ein „Stückchen“ (38) der Stadt geworden ist; oder Schlögl „Wiener Luft!“ Kleine Culturbilder aus dem Volksleben der alten Kaiserstadt an der Donau, 2. Aufl., Wien 1876, S.351: „Steigt lieber selbst, Ihr Zweifler [an der Wahrhaftigkeit des Geschilderten, K.M-R.] hinab auf die Straße, durchwandert die Vorstädte und ‘Gründe’, bis dorthin, wo die ‘letzten Häuser’ stehen; lebt im Volke und mit dem Volke, sucht es auf in seinen Werkstätten und Kämmerleins, in seinen Spelunken und Höhlen, erschaut es in Freud und Leid, in Uebermuth und Jammer, in Glück und Elend; erforscht die Genesis seines heutigen Sein’s.“
So unternahmen der Reporter Emil Kläger und der Photograph Hermann Drawe ihre nächtlichen „Exkursionen“ durch das vorstädtische und unterirdische Wien der Abwasserkanäle und Massenquartiere in „Räuberzivil“; die Ergebnisse dieser Rollenreportage wurde zunächst in Vortrags-, später in Buchform unter dem Titel Durch die Quartiere des Elends und Verbrechens (1908) veröffentlicht Vgl. hierzu den Beitrag von Siegfried Mattl in diesem Band.
Max Winter, Im unterirdischen Wien, Großstadt-Dokumente (Hrsg. v. Hans Ostwald), Bd. 13, Wien und Leipzig [1905], S. 12.
Max Winter, Im dunkelsten Wien, Wien und Leipzig 1904, S. 8.
Miller, Topographies, S. 5.
Miller, Topographies, S. 6.
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Müller-Richter, K. (2004). „Kulturhistorische Beute“. In: Kopp, K., Müller-Richter, K. (eds) Die ›Großstadt‹ und das ›Primitive‹. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02937-9_6
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