Zusammenfassung
Eduards Rückkehr auf das Landgut, nach gut vierzehn Kapiteln und fast ebenso vielen Monaten, während derer man nichts mehr von ihm erfährt, ein ganz unerwartetes Ereignis, ist der Auslöser fur das Unglück, welches die Wahlverwandtschaften in eine Tragödie umschlagen läßt. Wenige Jahre nach der Veröffentlichung des Romans notierte Sulpiz Boisserée ungewöhnliche Bekenntnisse Goethes über seine Liebe zu Ottilie und seine Trauer darüber, daß er sie sterben ließ. Hier findet sich auch folgender Selbstkommentar, der als Lektüreanweisung gelten darf: »Er legte Gewicht darauf, wie rasch und unaufhaltsam er die Katastrophe herbeigeführt […]. Er wurde zuletzt fast räthselhaft ahndungsvoll in seinen Reden«1. Gründet die erzählende Literatur generell einen nicht geringen Teil ihrer Sinnkonstruktion auf das telos, dem der Handlungsablauf zustrebt2, so lenkt Goethe mit dem aristotelischen Begriff der tragischen Katastrophe besondere Aufmerksamkeit auf dieses Ende, auf welches das Geschehen als Verkettung unheilvoller Vorfälle zustürzt. Und tatsächlich wird der Leser entdecken, daß der Wendepunkt, von dem an diese Entwicklung einsetzt, nämlich die Szene, in welcher der kleine Otto im See ertrinkt, der Fluchtpunkt ist, auf den die gesamte Perspektive des Textes von den ersten Seiten an gerichtet ist. Jedes einzelne Element dieser Szene wird nämlich von einer Reihe Leitmotive vorbereitet, die im Lauf der Erzählung nach und nach Gestalt annehmen, sich hier schließlich zu einem großen Gesamtakkord verbinden, aus dem eine einheitliche Stimmung nachklingt — und gleich darauf nicht zufällig aus der Erzählung verschwinden.
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Notizen
So H.Anton, Der Raub der Proserpina. Literarische Traditionen eines erotischen Sinnbildes und mythischen Symbols, Heidelberg 1967, S. 18.
Vgl. J.G. Herder, Werke in acht Bänden, hg. v. G.Arnold u. a., Bd. IV, Frankfurt/M. 1994, S. 1026–1028.
Vgl. W. Kittler, Goethes Wahlverwandtschaften, a.a.O., S. 253. Dies ist, wie es scheint, die einzige Stelle in der gesamten Forschung über den Roman, wo Ottilies Geschichte, flüchtig zumindest, mit dem »zyklischen Schicksal der Persephone« verglichen wird. Ebenso en passant definiert P. Citati — doch im wesentlichen wegen des Endes—Ottilie als eine »katholische Proserpina«; siehe seine Einführung zu J.W. Goethe, Le affinità elettive, Mailand 1978, S. 21–69, hier S. 55, 67.
Vgl. Baioni, II giovane Goethe, a.a.O., S. 42f, 115–122, 221–264, 309–333. Den spinozistischen Charakter von Ottilies Wende erkannte S. Barbera, Goethe e il disordine. Una filosofia delVimmaginazione,Venedig 1990, S. 70f. Es erübrigt sich die Bemerkung, daß gerade dieses spinozistische Konzept des amor dei bei Goethe säkularisiert ist.—Zur Rousseauschen Herkunft von Goethes Kritik der »Eigenliebe« als spezifisch moderner »Pervertierung« der Liebe und der »gesunden Selbstliebe«
vgl. St. Sbarra, Der junge Goethe und Jean-Jacques Rousseau, in: GJb, CXIX (2002), S. 23–41.
Vgl. R. Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, Frankfurt/M. 1986, S. 261f (frz. O.: Fragments d’un discours amoureux, Paris 1977).
Vgl. EJ. Stopp, »Ein wahrer Narziß«. Reflections on the Eduard-Ottilie Relationship in Goethe’s »Wahlverwandtschaften«, in: PEGS, XXIX (1959–60), S. 52–85.
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Sampaolo, G. (2003). Der Raub der Ottilie Verführung als Parabel. In: »Proserpinens Park«. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02927-0_4
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