Zusammenfassung
Spätestens seit Arnold van Gennep (1909) setzen sich Ritualforscher mit der inneren Struktur ritueller Aktivitäten auseinander und bemühen sich, soziale, psychische und sakrale Bedeutungen von Ritualen zu dechiffrieren und sichtbar zu machen: Als rituelle Kenntlichmachung von sozialem Status, als Ventil gesellschaftlicher Spannungen und Angstbewältigung, als periodische Umkehrung von Geschlechterrollen und sozialen Hierarchien, als Verhandlungsmöglichkeit sozialer Machtverhältnisse, als symbolische Inszenierung kosmologischer Weltvorstellungen, u.s.w. Insbesondere Victor Turners These des dialektischen Prozesses von Struktur und Anti-Struktur, in der der ›Schwellen-zustand‹( liminality) des Rituals das Erlebnis der Communitas ermöglicht und die periodische Auflösung sozialer Strukturen bewirkt (Turner, 1989: 126), hat die Ritualforschung in den letzten vierzig Jahren stark beeinflusst. ›Performance-Theorien‹ ritueller Handlungen konzentrieren sich dabei auf das, was das Ritual macht, nicht was es bedeutet, nicht zuletzt deshalb, weil Rituale — wie insbesondere Frits Staal herausstellte — nicht als lesbare, dechiffrierbare Texte verstanden werden können (Staal, 1979). Frits Staals viel beachtete und viel kritisierte These des rein performativen Charakters von Ritualen und ihrer letztendlichen Bedeutungslosigkeit wirft allerdings die Frage auf, ob er nicht das Kind mit dem Bade ausschüttet, wenn er mit der Bedeutungslosigkeit ritueller Handlungsabläufe auch das zugrundeliegende Motiv — Lebensprozesse zu ritualisieren und identitätsstiftende Erinnerungsräume zu schaffen — entwertet.
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Anmerkungen
Vgl. M. McGee, ›Fasting and Feasting‹, Ann Arbor, 1987; dies., ›Desired Fruits: Motive and Intention in the Votive Rites of Hindu Women‹, in: Julia Leslie (Hg.), Roles and Rituals for Hindu Women, Rutherford, 1991; dies., ›In Quest of Saubhägya‹, in: Anne Feldhaus (Hg.), Images of Women in Maharashtrian Literature and Religion, Albany / New York, 1996: 147–170;
A. Mackenzie Pearson, ›Because it gives me Peace of Mind‹, New York, 1996.
Befragung von 811 Frauen und Männern zwischen 16–30 J. in den fünf größten Städten Indiens. Vgl. M. Jain, ›My God hasn ’t died young‹, in: India Today, 05. 10. 1998: 50–55.
Vgl. S. M. Bhardwaj, ›Hindu Places of Pilgrimage in India‹, Berkeley, 1973: 6. Zu Kontexten hinduistischer Pilgerorte
vgl. auch D. P. Dubey (Hg.), ›Pilgrimage Studiess‹, Allahabad, 1995;
S. M. Bhardwaj / G. Rinschede (Hgs.), ›Pilgrimage in World Religions‹, Berlin, 1988.
Vgl. A. Michaels, ›Der Hinduismus‹, München, 1998a: 314. Michaels Raumtheorie vom Hinduismus beruht dabei im wesentlichen auf wissenschaftstheoretischen Hintergründen, die auf Kurt Hübner zurückgehen.
Vgl. K. Hübner, ›Die Wahrheit des Mythos‹, München, 1985.
Dabei handelt es sich nicht, wie man vielleicht vermuten würde, um eine zufällige linguistische Kategorie, die zu einer einheitlichen Feminini-sierung von Flüssen führte: In Indien gibt es genauso — wenn auch seltener — männliche Flüsse, wobei die bekanntesten der Indus und der Brahmaputra sind. Vgl. R. Salomon, ›Legal and Symbolic Significance of the Menstrual Pollution of Rivers‹, in: R. W. Larivière, Studies in Dharmasästra, Calcutta, 1984:
173, vgl. auch A. Feldhaus, ›Water and Womanhoods‹, New York / Oxford, 1995: 40ff.
Vgl. V. Das, ›The Mythological Film and its Framework of Meaning: An Analysis of Jai Santoshi Mas‹, in: India International Quarterly, Vol. 8 (1), 1980: 43–56;
S. Kurtz, ›A11 the Mothers are Ones‹, New York, 1992;
K. Erndl, ›Victory to the Mothers‹, New York, 1993;
J. S. Hawley, ›Prologue. The Goddess in Indias‹, in: ders. / D. M. Wulff (Hgs.), Devi. Goddesses of India, New Delhi, 1998 (1996): 1–28.
Der Santos! Mätä-Tempel in Jodhpur — ein Tempel der ursprünglich der ›Mutter des roten Sees‹ (läl sägar kï mätä) gewidmet war und erst ab 1967 Santosï Mätä zugeordnet wurde — soll die Inspirationsquelle für den Kinofilm gewesen sein: Die Ehefrau des Regisseurs soll den Tempel in Jodhpur besucht haben und ihren Mann dazu bewegt haben, einen Film über Santosï Mätä zu drehen. Vgl. J. S. Hawley, ›rologue. The Goddess in Indias‹, in: ders. / D. M. Wulff (Hgs.), Devi. Goddesses of India, New Delhi, 1998 (1996): 3.
Eine starke Demütigung im hinduistischen Kontext, da Essensreste (in Berührung mit dem Speichel anderer) als verunreinigt (jüthä) betrachtet werden; vgl. hierzu L. Babb, ›the Divine Hierarchy‹, New York / London, 1975.
Zum Begriff satï vgl. Kapitel 5. Eine satï ist im nordindischen Sprachgbrauch sowohl eine ideale Gattin als auch eine ›glücksverheißende Frau‹ Der Begriff umschreibt ferner den freiwilligen Feuertod von Witwen, die sich auf dem Scheiterhaufen ihres verstorbenen Gatten verbrennen lassen und so göttlichen Status erlangen. Zur aktuellen Diskussion der Selbstverbrennung (satï) vgl. J. Fisch, ›Tödliche Rituales‹, ankfurt/M., 1998;
A. Michaels, ›echt auf Leben und Selbsttötung in Indiens‹, in: Bernhard Mensen (Hg.), Recht auf Leben — Recht auf Töten, ein Kulturvergleich, Nettetal, 1992: 95–124;
J. S. Hawley (Hg.), ›Sati, the Blessing and the Curses‹, New York / Oxford, 1994.
Die Soziologin Veena Das macht bereits 1980 in einem Artikel auf diesen Konflikt aufmerksam, ohne diesen Aspekt jedoch weiter zu vertiefen; vgl. V. Das, ›The Mythological Film and its Framework of Meaning: An Analysis of Jai Santoshi Mas‹, in: India International Quarterly, Vol. 8(1), 1980: 44.
Vgl. Kapitel 3 zum Thema der in der indischen Mythologie häufig the matisierten geschlechtlichen Wandlung; vgl. auch W. Doniger, splitting the Differences Chicago, 1999: 260ff;.
Zur ›Sanskritisierung‹, vgl. M. N. Srinivas, ›Social Change in Modern India‹, Berkeley / New Delhi, 1966.
Zur Praxis der Verehrung lebender ›Göttinnen-Asketinnen‹, vgl. z. B. H. Basu, ›Göttinnen-Asketinnen‹, in: K. Poggendorf-Kakar / L. Guzy / H. Zinser (Hgs.), Tradition im Wandel, Tübingen, 2000: 9–25;
auch K. Erndl, ›The Goddess and Women ’s Power: A Hindu Case Studys‹, in: K. L. King (Hg.), Women and Goddess Traditions, Minneapolis, 1997: 17–38.
; Vgl. z. B. A. Mitra, ›Television and Popular Culture in India‹, New Delhi, 1993;
P. Lutgendorf, ›All in the (Raghu) Family: A Video Epic in Cultural Contexts‹, in: L. Babb / S. Wadley (Hgs.), Media and the Transformation of Religion in South Asia, Philadelphia, 1995: 217–253.
Die Nähe des Hindi-Spielfilms zum Theater wurde vielfach bemerkt, beispielsweise S. Kakar, ›The Ties that Binds‹, in: India International Quarterly, Vol. 8(1): 11–20. M. Reym Binford, ›nnovation und Imitation im zeitgenössischen indischen Film‹ in: Haus der Kulturen der Welt, Filmland Indien, Berlin, 1992: 29–40.;
M. Burger, ›The Outlaw Pirate Heroines‹, in: A. Michaels et al (Hgs.), Wild Goddesses in India and Nepal, Bern, 1996:529–544.
Vgl. auch S. Bhargava, ›Divine Sensations‹, in: India Today, 30.04.1987: 170/171;
M. Jain, ›The Second Comings‹, in: India Today, 11.08.1988: 155; dies., ›Heavenly Harvests‹, in: India Today, 15.09.1988: 140–141; d ies., ›The God Factorys‹, in: India Today, 31.05.1997: 108–112.
Die Comics sind inzwischen zum Teil auch im Internet abrufbar (www. freeindia.org) und werden wöchentlich im indischen Fernsehen ausgestrahlt. Zur Analyse der Amar-Chitra-Katha-Comics vgl. z. B. F. W. Pritchett, ›The World of Amar Chitra Kathas‹, in: L. A. Babb. / S. Wadley (Hgs.), Media and the Transformation of Religion in South Asia, Philadelphia, 1995: 76–106;
auch J. S. Hawley, ›The Saints Subdueds‹, in: L. A. Babb / S. Wadley (Hgs.), Media and the Transformation of Religion in South Asia, Philadelphia, 1995: 107–134.
Interview mit Ma Prem Usha, Delhi, 02.03.2000. Zu bemerken ist an dieser Stelle, dass das Tarot nachweislich als Gesellschaftsspiel (Tarocchi) in Italien um 1440 seinen Anfang nahm und ab dem 18. Jh. zu einem populären Wahrsagespiel der Pariser Oberschicht wurde; vgl. hierzu H. Piegeler, ›Ikonographie der modernen Esoterik‹, in: A. Hölscher / R. Kampling (Hgs.), Religiöse Sprache und ihre Bilder, Berlin, 1998: 70–100.
Interview mit Ram Nam Das, Delhi, 12.03.1999; zu ISKCON in Indien vgl. auch C. H. Brooks, ›The Hare Krishna in India‹, Princeton / New Jersey, 1989.
Was auch mangels eines Zentrums im Hinduismus gar nicht möglich wäre. Vgl. zum hinduistischen SektenbegrifF A. Michaels, ›Der Hinduismus‹, München, 1998a: 349.
Zum Einfluss der ›elektronischen Kirche‹ und der neuen Medien-Massenpriester in den USA vgl. S. M. Hoover, ›Mass Media Religions‹, London / New Delhi, 1988.
Spiritismus (von lat. Spiritus) ist eine Sammelbezeichnung für eine soziale Massenbewegung, die 1848 in den USA ihren Anfang nahm und auf zwei Voraussetzungen aufbaut: dass die individuelle Seele (oder Psyche) den körperlichen Tod überdauert und dass mithilfe bestimmter Techniken (und Personen) eine Kontaktaufnahme möglich ist. Vgl. zur Geschichte des Spiritismus A. Braude, ›Radical Spirits‹, Boston, 1989.
Ein von P. Hacker geprägter Begriff; vgl. ders., ›Inklusivismus‹, in: G. Oberhammer, Inklusivismus: Eine Indische Denkform, Wien, 1983.
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Poggendorf-Kakar, K. (2002). Die Entstehung Religiöser Identität im Lebensumfeld Städtischer Frauen. In: Hindu-Frauen zwischen Tradition und Moderne. Ergebnisse der Frauenforschung. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02916-4_3
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