Zusammenfassung
»Ich schäme mich nicht zu gestehen, was Sie befürchten: daß ich nicht deutlich weiß, wovon ich rede.« Kleist an Christian Ernst Martini, Potsdam, den 18. (und 19.) März 1799. Kleist will von Tugend sprechen und er kratzt mit der Feder das Wort auf den Briefbogen, beobachtet, wie das Wort sich Buchstabe für Buchstabe vom Weiß des Papiers aufsaugen lässt und in seiner Handschrift vor seinen Augen steht: unerklärlich, aber von seiner Hand, am Ende einer Befehlskette durch seinen Körper, von den Nerven in die Fingerspitzen gezuckt. Eine chemische Reaktion, eine Brücke zwischen den vom Denken entzündeten Hirnhälften, ein moralischer Impuls vor der Leere der Seite. Dieses Grundtrauma des Dichtens: ich weiß nicht, wovon ich spreche. Die Anatomie des Schweigens und des Unvermögens wie ein zweiter zerbrechlicher Knochenbau unter der Haut. Ein Rückgrat aus Träumen, ein Depot von unbrauchbaren Worten in den Schleimbeuteln, Sehnsuchtsbändern, die zwischen den Zeilen reißen, aus der Netzhaut fliegen wie Luftballons, dem Himmel zu, ins Gelächter der Wolken, die weiterziehen. Die Einsamkeit im Lärm der Möglichkeiten. Ein Tisch, ein Heft auf den Knien, der Rhythmus der Schritte beim Gehen, wenn die Versfüße in eine andere Richtung laufen, in den Wald zurück, das Dickicht, wenn die Lichtung sich schon abzeichnet im Morgennebel, aber der Kopf sich wendet.
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Ostermaier, A. (2004). Kleist-Preis-Rede. In: Blamberger, G., Breuer, I. (eds) Kleist-Jahrbuch 2004. Kleist-Jahrbuch. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02898-3_3
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-02898-3_3
Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart
Print ISBN: 978-3-476-02048-2
Online ISBN: 978-3-476-02898-3
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