Zusammenfassung
Zu den am leidenschaftlichsten diskutierten Fragen in der jüngsten Kleist-Forschung gehört die nach dem Status der Moral in seinen Texten. Nun sag’, wie hast du’s mit der Moral? Diese Gretchen-Frage stellt etwa Wolfgang Wittkowski seinen Kolleginnen und Kollegen und verficht mit seit einigen Jahren zunehmender Vehemenz immer wieder eine ethisch ›positive‹ Kleist-Interpretation:
In der Literatur der Goethezeit, der sogenannten ethischen Humanität, waren ethische Werte, ihre Erfüllung und Verfehlung die zentralen Themen. Das Publikum soll ›nachfolgen‹, das ›Gute‹ ›nachahmen‹, das ›Böse‹, Falsche meiden. Um der nachhaltigeren Wirkung und ›Erziehung‹ willen kontrastieren Gut und Schlecht und wird das Erkennen erschwert durch Verlockung zum Verkennen. Das Publikum, jedenfalls das gelehrte, das heute andere Interessen hat als ethische, hat diese Werke denn auch oft verkannt.2
Der vorliegende Beitrag knüpft in einigen Aspekten an meinen Forschungsbericht zu ›Michael Kohlhaas‹ an; vgl. Bernd Hamacher, Schrift, Recht und Moral. Kontroversen um Kleists Erzählen anhand der neueren Forschung zu ›Michael Kohlhaas‹. In: Heinrich von Kleist. Neue Wege der Forschung, hg. von Anton Philipp Knittel und Inka Kording, Darmstadt 2003, S. 254–278.
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Notizen
Wolfgang Wittkowski, ›Die Marquise von O…‹ und ›Der Findling‹. Zur ethischen Funktion von Erotik und Sexualität im Werk Kleists. In: Erotik und Sexualität im Werk Heinrich von Kleists, hg. vom Kleist-Archiv Sembdner, Heilbronn 2000, S. 192–238, hier S. 192.
Hans-Jochen Marquardt, Heinrich von Kleist — die Geburt der Moderne aus dem Geiste »neuer Aufklärung«. In: Heinrich von Kleist und die Aufklärung, hg. von Tim Mehigan, Rochester/NY 2000, S. 22–45, hier S. 30.
Vgl. Bianca Theisen, Bogenschluß. Kleists Formalisierung des Lesens, Freiburg i. Br. 1996.
Vgl. David Pan, The Aesthetic Foundations of Morality in ›Das Erdbeben in Chili‹. In: Kleists Dramen und Erzählungen. Neue Studien, hg. von Paul Michael Lützeler und David Pan, Würzburg 2001, S. 49–59, hier S. 58: »one is led to a perspective from which it becomes clear that Jeronimo and Josephe deserve the condemnation of the community. In demonstrating a callous disregard for the suffering surrounding them, ›das heimliche Gejauchz ihrer Seelen‹ after the earthquake is only another example of how they have consistently placed their own personal love above all other considerations rather than subordinating it to higher principles.«
Bernhard Greiner, Kleists Dramen und Erzählungen. Experimente zum ›Fall‹ der Kunst, Tübingen und Basel 2000, S. 359.
Vgl. Günter Blamberger, Agonalität und Theatralität. Kleists Gedankenfigur des Duells im Kontext der europäischen Moralistik. In: KJb 1999, S. 25–40.
Heinz von Foerster, Wahrnehmen. In: Philosophien der neuen Technologie, hg. von Ars Electronica, Berlin 1989, S. 27–40, hier S. 30.
Vgl. auch die Bedenken, die Clemens Pornschlegel gegen das »Foerster’sche Theorem« ins Feld führt: »Nur bleibt damit erstens auch die Legitimitätsfrage für die Spielregeln […] ausgespart […], während zweitens die sogenannten Wr-Entscheidungen, die unentscheidbar sind, eben wegen ihrer Unentscheidbarkeit auch schon wieder beliebig werden. Weswegen solcher partieller Dezisionismus oder die kleine und pluralistische Variante noch nicht vor den großen Axiomatiken schützt: Nichts nämlich kann irgendwie verhindern, daß die Dezision nicht auch zugunsten einer totalen und großen Axiomatik ausfällt. Ins Politische übertragen hieße das, daß demokratischer Pluralismus nicht vor moderner Diktatur schützt.« Clemens Pornschlegel, Der literarische Souverän. Zur politischen Funktion der deutschen Dichtung bei Goethe, Heidegger, Kafka und im George-Kreis, Freiburg i. Br. 1994, S. 246.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Ästhetik. Nach der zweiten Ausgabe Heinrich Gustav Hothos (1842) redigiert von Friedrich Bassenge, 2 Bände, Frankfurt a. M. [o.J. / 2. Auflage 1966], Bd. 1, S. 576.
Zitiert nach Klaus R. Scherpe, Werther und Wertherwirkung. Zum Syndrom bürgerlicher Gesellschaftsordnung im 18. Jahrhundert, 2. Auflage, Wiesbaden 1975, S. 74.
Scherpe, Werther (wie Anm. 11), S. 82.
Vgl. Karl Eibl, Die Entstehung der Poesie, Frankfurt a. M. und Leipzig 1995, S. 134.
Hegel, Ästhetik, Bd. 1 (wie Anm. 10), S. 578 f.
Vgl. Eva Geulen, Das Ende der Kunst. Lesarten eines Gerüchts nach Hegel, Frankfurt a.M. 2002, Kap. 1 und 2.
Vgl. Manfred Eigen, Mozart — oder unser Unvermögen, das Genie zu begreifen. In: Kreativität, hg. von Rainer M. Holm-Hadulla, 2. Auflage, Berlin [u.a.] 2001 (Heidelberger Jahrbücher; XLIV), S. 27–45, hier S. 28.
Frank R. Pfetsch, Kreatives Verhandeln in Politik und Wirtschaft. In: Kreativität (wie Anm. 16), S. 127–155, hier S. 128.
Vgl. dazu auch: Andreas Gailus, Über die plötzliche Verwandlung der Geschichte durchs Sprechen. Kleist und das Ereignis der Rede. In: KJb 2002, S. 154–164.
Vgl. Herminio Schmidt, Heinrich von Kleist. Naturwissenschaft als Dichtungsprinzip, Bern und Stuttgart 1978, S. 19: »Wenn nun die Poesie für Kleist die höchste Ausdrucksform war, so versteht sich eine Wechselwirkung zwischen seiner wissenschaftlichen und seiner künstlerischen Tätigkeit um so mehr, da alle seine naturwissenschaftlichen Bestrebungen von dem gleichen Geiste getragen werden, nämlich in der Betrachtung aller einzelnen Erscheinungen, die Totalität einer vollendeten Weltanschauung zu suchen.«
Vgl. in diesem Sinne auch den Kommentar zum Brief an Pfuel in DKV IV, 1035 f. sowie zuletzt Klaus Müller-Salget, Heinrich von Kleist, Stuttgart 2002, S. 34.
Vgl. besonders Theisen, Bogenschluß (wie Anm. 4). Unter dem Titel ›Kleists Paradoxien des Lesens‹ hat Theisen inzwischen einen überarbeiteten Auszug aus ihrem Buch publiziert, in: Heinrich von Kleist (wie Anm. 1), S. 111–130.
Vgl. Nancy Nobile, The School of Days. Heinrich von Kleist and the Traumas of Education, Detroit/Mich. 1999, S. 66: »It’s crucial to note […] that in Levanus’s subsequent discussion of how this law of physics pertains in social interactions, imbalance or ›illness‹ is not resolved but persists as intense opposition. […] Each of Levanus’s nine examples reveals that the law of physics he describes does not function identically in the sphere of morals […].« Dagegen bemerkt selbst ein so skrupulöser Leser wie Bernhard Greiner den Widerspruch offenbar nicht; vgl. Greiner, Kleists Dramen und Erzählungen (wie Anm. 6), S. 5. — Ulrich Port beschränkt sich bei seiner Analyse der Affekte in ›Penthesilea‹ auf die ›moralische Welt‹ und konstatiert eine permanente Verflüssigung von Oppositionen, insbesondere derjenigen von ›Liebe‹ und ›Haß‹: »Daß sich während der Begegnung zwischen Penthesilea und Achill eine dieser Regungen stabilisieren könnte, scheint ausgeschlossen.« Ulrich Port, »In unbegriffner Leidenschaft empört«? Zur Diskursivierung der (tragischen) Affekte in Kleists ›Penthesilea‹. In: KJb 2002, S. 94–108, hier S. 99.
Dies hatte noch Herminio Schmidt suggeriert, der »die Totalität einer vollendeten Weltanschauung« in Kleists »nach den konkretisierten Gesetzen der Elektrizität gebildete[m] Dichtungsprinzip, mit Hilfe dessen alle Einzelheiten im Kunstwerk für den Dichter exakt vorauskalkulierbar wurden«, finden wollte. Schmidt, Heinrich von Kleist (wie Anm. 19), S. 19, 95.
Eigen, Mozart (wie Anm. 16), S. 29.
Daß eine ›Malitätsbonisierung‹ im Sinne Leibnizens daher bei Kleist nicht gelinge, betont auch Johannes Endres, »Bonum durch Malum«? Kleist, die Welt und das Übel. In: Beiträge zur Kleist-Forschung 2002, S. 205–218.
Carlos R[oberto] V[elho] Cirne-Lima, Brief über die Dialektik. In: Das Problem der Dialektik, hg. von Dieter Wandschneider, Bonn 1997 (Studien zum System der Philosophie; 3), S. 77–89, hier S. 80.
Cirne-Lima, Brief über die Dialektik (wie Anm. 26), S. 81.
Zu Kleists Paradoxien vgl. auch Gabriele Kapp, »Des Gedankens Senkblei«. Studien zur Sprachauffassung Heinrich von Kleists 1799–1806, Stuttgart und Weimar 2000, besonders Teil 1.
Karlheinz Stierle, ›Amphitryon‹. Die Komödie des Absoluten. In: Kleists Dramen. Interpretationen, hg. von Walter Hinderer, Stuttgart 1997, S. 33–74, hier S. 47.
Blamberger, Agonalität und Theatralität (wie Anm. 7), S. 25.
Cirne-Lima, Brief über die Dialektik (wie Anm. 26), S. 81.
Rüdiger Bittner, Moralisches Gebot oder Autonomie, Freiburg und München 1983 (Reihe Praktische Philosophie; 18), S. 53.
Vgl. Bittner, Moralisches Gebot (wie Anm 32), S. 57 f.
Bittner, Moralisches Gebot (wie Anm. 32), S. 104.
Bittner, Moralisches Gebot (wie Anm. 32), S. 167.
Vgl. Bittner, Moralisches Gebot (wie Anm. 32), S. 181 f.
Zur Verbindung von ›Neoaristotelismus‹ und ›Postmodernismus‹ vgl. insbesondere Josef Früchtl, Ästhetische Erfahrung und moralisches Urteil. Eine Rehabilitierung, Frankfurt a. M. 1996. — Zum Problemkreis Ästhetik und Moral vgl. auch Guido Kreis, [Art.] ›Moralisch — amoralisch‹, V: 19. und 20. Jahrhundert. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hg. von Karlheinz Barck u.a., Bd. 4, Stuttgart und Weimar 2002, S. 205–224.
Bittner, Moralisches Gebot (wie Anm. 32), S. 205. — Auch Josef Früchtl meint (hier mit Bezug auf Nietzsche), daß »die Philosophie mit der Literatur das Anliegen des richtigen Lebens teilt«. Früchtl, Ästhetische Erfahrung (wie Anm. 37), S. 173.
Vgl. Früchtl, Ästhetische Erfahrung (wie Anm. 37), S. 492.
Vgl. Pan, The Aesthetic Foundations of Morality (wie Anm. 5), S. 59: »the legitimacy of each position can only be measured by the degree of aesthetic assent each is able to attain within the Community.«
Eher implizit gilt dies auch für Bernhard Greiners Versuch, die Konsequenzen seiner ›bösen‹ Lektüre durch den Verweis auf den Kunstcharakter des Werks — und damit auch den Werkcharakter der Kunst — abzufedern; vgl. Greiner, Kleists Dramen und Erzählungen (wie Anm. 6), besonders die Kapitel zum ›Findling‹ und zum ›Erdbeben‹.
Paul Johann Anselm Feuerbach, Anti-Hobbes oder über die Grenzen der höchsten Gewalt und das Zwangsrecht der Bürger gegen den Oberherrn, Gießen 1797, Nachdruck Darmstadt 1967.
Anon. [Ludwig Heinrich Jakob], Antimachiavel, oder über die Grenzen des bürgerlichen Gehorsams. Auf Veranlassung zweyer Aufsätze in der Berl. Monatsschrift (Sept. und Dec. 1793) von den Herren Kant und Genz, Halle 1794.
Vgl. Ludwig Gottfried Madihn, Grundsätze des Naturrechts zum Gebrauch seiner Vorlesungen. 1. Theil: Absolutes Naturrecht, Frankfurt a. d. Oder [o.J. / 1789], S. 3.
Madihn, Grundsätze des Naturrechts (wie Anm. 44), S. 7.
Madihn, Grundsätze des Naturrechts (wie Anm. 44), S. 14.
Madihn, Grundsätze des Naturrechts (wie Anm. 44), S. 168.
Vgl. in ›De trinitate‹: »Um so mehr also hängt man Gott an, je weniger man das eigene Selbst liebt. Wer sich also von der Gier, seine Macht zu erleben, treiben läßt, stürzt gewissermaßen auf seinen eigenen Wink hin in sich selbst als Mittelpunkt. Da er also wie jener unter keinem stehen will, wird er zur Strafe auch von der Mitte, die er selbst ist, weiter getrieben nach unten, das heißt zu dem, woran das Vieh sich freut […]. Auf welch anderem Wege also soll er so weit vom Höchsten bis zum Niedersten kommen, als auf dem, der ihn zu sich als Mitte führt? […] [D]ie so beschwerte Seele stürzt gleichsam durch ihr eigenes Gewicht aus der Seligkeit heraus […].« Aurelius Augustinus, Des Heiligen Kirchenvaters Aurelius Augustinus fünfzehn Bücher über die Dreieinigkeit, aus dem Lateinischen übersetzt und mit Einleitung versehen von Michael Schmaus, Bd. 2: Buch VIII-XV, München 1936 (Bibliothek der Kirchenväter, 2. Reihe; 14), S. 143 f. — Auf den augenfälligen Augustinus-Bezug des Diskurses von »Seele« und »Schwerpunkt« in Kleists ›Marionettentheater‹-Aufsatz kann hier nur im Vorbeigehen verwiesen werden.
Daß dies — wie bei ›Michael Kohlhaas‹ — auch grundsätzlich für Rechtsfragen gilt, legt Görg Haverkates Fokussierung der kreativen Aspekte der Rechtschöpfung nahe; vgl. Görg Haverkate, Rechtschöpfung. In: Kreativität (wie Anm. 16), S. 329–344.
Vgl. Günter Blamberger, Das Geheimnis des Schöpferischen oder: Ingenium est ineffabile? Studien zur Literaturgeschichte der Kreativität zwischen Goethezeit und Moderne, Stuttgart 1991, S. 19.
Dies unterscheidet Kleist ideengeschichtlich von Goethe, der — zumindest in seinen späteren Jahren — die Auflösungen gerne selber finden mochte und daher den von Kleists »gemeine[m] Gesetz des Widerspruchs« gar nicht so weit entfernten Begriff der »Polarität« um den der »Steigerung« ergänzt: »der Begriff von Polarität und von Steigerung, jene der Materie, insofern wir sie materiell, diese ihr dagegen, insofern wir sie geistig denken, angehörig; jene ist in immerwährendem Anziehen und Abstoßen, diese in immerstrebendem Aufsteigen. Weil aber die Materie nie ohne Geist, der Geist nie ohne Materie existirt und wirksam sein kann, so vermag auch die Materie sich zu steigern, so wie sich’s der Geist nicht nehmen läßt, anzuziehen und abzustoßen; wie derjenige nur allein zu denken vermag, der genugsam getrennt hat um zu verbinden, genugsam verbunden hat um wieder trennen zu mögen.« Johann Wolfgang Goethe, Erläuterung zu dem aphoristischen Aufsatz ›Die Natur‹. In: Goethes Werke, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, II. Abt., Bd. 11: Zur Naturwissenschaft. Allgemeine Naturlehre, I. Theil, Weimar 1893, S. 10–12, hier S. 11.
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Hamacher, B. (2003). »Auf Recht und Sitte halten«?. In: Blamberger, G. (eds) Kleist-Jahrbuch 2003. Kleist-Jahrbuch. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02897-6_6
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