Zusammenfassung
Jedem Leser Kleists ist die Häufigkeit vertraut, mit der Geschlechtsverkehr, Zeugung, Schwangerschaft und Geburt im Zentrum seiner Werke stehen. Offensichtliche Beispiele sind die beiden Komödien ›Der zerbrochne Krug› und ›Amphitryon‹ sowie die Erzählungen ›Die Marquise von O…‹ und ›Der Zweikampf‹. Ihnen ist eine (mehr oder weniger) hinter die Kulissen verlegte und in ihren Umständen dunkle sexuelle Begegnung gemeinsam, aus der sich die konfliktträchtige Handlung entwickelt, die von der Dynamik einer detektivischen Aufklärung angetrieben wird. Hierin erschöpft sie sich freilich nicht. Denn in dem Maße, in dem sich der faktische Tatbestand klärt und die Frage »Wer mit wem unter welchen Umständen?« schließlich beantwortet erscheint, vollzieht sich ein anderer und gegenläufiger Prozeß, der jenen blinden körperlichen Moment zum Gegenstand kultureller Bedeutungsstiftung macht und dem nackten Blick entzieht. Aufklärung und Verbergung, Enthüllen und Verhüllen bilden hier unauflöslich ineinander verschlungene Vorgänge.
Bei diesem Beitrag handelt es sich um die Bearbeitung eines etwa gleichzeitig ercheinenden Artikels in englischer Sprache: Helmut J. Schneider, The Facts of Life: Kleist’s Challenge to Enlightenment Humanism (Lessing). In: A Companion to the Works of Heinrich von Kleist, hg. von Bernd Fischer, Rochester/NY [im Druck].
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Literatur
›Adoption‹ wird hier also, über die wörtliche Bedeutung hinaus, auch metaphorisch gebraucht (so wie es in letzter Zeit übrigens, im Anschluß an die ›Verlobungs‹-Novelle, mehrmals mit dem Begriff der »Verlobung« geschehen ist), etwa im Sinne der kulturellen Aneignung eines fremden Ursprungs, was im folgenden deutlicher werden soll. Dabei soll jedoch der Zusammenhang mit der buchstäblichen Geburtsthematik gewahrt bleiben, wobei sich eine Linie konstruieren läßt von den eigentlichen Adoptionsakten (›Erdbeben‹, ›Findling‹ die Erhebung der Kohlhaas-Söhne in den Adelsstand könnte hierzu gerechnet werden) oder Adoptionsverhältnissen (›Homburg‹) über die Quasi-Adoption (eigentlich die rechtliche Anerkennung) eines außerehelich gezeugten Kindes durch seine biologischen Eltern bzw. einen Elternteil ›Marquises‹, ›Amphitryon‹, ›Käthchen‹) bis zur rein metaphorischen, für die vielleicht der ›Zerbrochne Krug‹ das deutlichste Beispiel ist (Adam, seiner biblischen Rolle gemäß, als der biologische Erzeuger, der von Walter ersetzt wird); aber auch an die ›Verlobung‹ ist zu denken, wo Toni in ihre europäische (Halb-)›Heimat‹ gewissermaßen zurückadoptiert werden soll. — Einen guten analytischen Überblick über die so heterogenen Darstellungen der Familienverhältnisse, mit dem Akzent auf deren staatlich-politischen Implikationen, gibt Anthony Stephens, Kleists Familienmodelle. In: Ders., Kleist — Sprache und Gewalt, Freiburg/Brsg. 1999, S. 85–102; dort S. 91 ff. auch zur Adoptiwaterschaft, mit Rückgriff auf die Aufklärung.
— Zum literarischen Motiv der Adoption ist mir nur eine — psychoanalytisch orientierte — neuere Arbeit bekannt: Peter Dettmering, Die Adoptionsphantasie. »Adoption« als Fiktion und Realität, Würzburg 1994 (dort zum ›Findling‹ S. 45 ff. kursorische Bemerkungen).
Gotthold Ephraim Lessing, Werke, hg. von Herbert G. Göpfert, Bd. 2, München 1971, S. 274 (III/5).
Günther Säße, Die aufgeklärte Familie: Untersuchungen zur Genese, Funktion und Realitätsbezogenheit des familialen Wertsystems im Drama der Aufklärung, Tübingen 1988, S.216f.
Diese Substitutionsfunktion hat die neueren Analysen des Textes vorrangig geleitet. Stellvertretend sei genannt: J. Hillis Miller, Just Reading: Kleist’s ›Der Findling‹;. In: Ders., Versions of Pygmalion, Cambridge/Mass. 1990, S. 82–140.
Sigmund Freud, Der Familienroman der Neurotiker. In: Ders.: Studienausgabe, hg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey, Bd. 4, Frankfurt a.M. 1970, S. 223–226.
Hierzu, mit Blick auf die neu zu bildende Nationalarmee, vgl. Wolf Kittler, Die Geburt des Partisanen aus dem Geist der Poesie. Heinrich von Kleist und die Strategie der Befreiungskriege, Freiburg/Brsg. 1987, S. 92ff., besonders S. 135–138. — Kittler weist auch nachdrücklich auf »Kleists Interesse für den juristischen Akt der Adoption« (S. 82f.) hin, den er aber nicht darstellungstheoretisch behandelt.
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Schneider, H.J. (2002). Geburt und Adoption bei Lessing und Kleist. In: Blamberger, G. (eds) Kleist-Jahrbuch 2002. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02896-9_5
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