Skip to main content

Kunstfeindschaft bei Kleist

Der ästhetische Diskurs in ›Die heilige Cäcilie‹

  • Chapter
Kleist-Jahrbuch 2002

Zusammenfassung

Bekanntlich ist Kants ›Kritik der Urteilskraft‹ durch eine doppelte Bewegung charakterisiert, die einerseits von der Normativität der Aufklärungsästhetik weg und hin zu einer Ästhetik der subjektiven Lust führt, andererseits aber vor der radikalen Unverbindlichkeit des lediglich Angenehmen wegstrebt zur subjektiven Allgemeinheit. Wenngleich das ästhetische Urteil nicht wie etwa das moralische zur Verbindlichkeit hinreicht, so läßt es dennoch die Kontingenz des Bloß-Subjektiven mittels der Ansinnung hinter sich. Ein angesonnenes Urteil garantiert zwar keine konzeptuelle Übereinkunft, aber läßt zumindest eine symbolisch vermittelte Uniformität der Reaktionen erhoffen. Als solches hat das ästhetische Urteil eine wichtige gesellschaftsbildende Funktion, da eben nicht — wie noch für die Aufklärungs-ästhetik — die Kenntnis von Regeln, die von der Bildung abhängt, die Kunst zur gesellschaftlichen macht, sondern das mehr oder minder universelle Spiel der Fakultäten, das sich auf anthropologische Konstanten berufen kann. Gerade diese gemeinschaftsstiftende Funktion der Kunst wird in Heinrich von Kleists Erzählung ›Die heilige Cäcilie oder Die Gewalt der Musik (Eine Legende)‹ jedoch zurückgenommen, da Kleist eine Kunstwirkung schildert, die die Möglichkeit des ästhetischen Urteils als eines gemeinschaftsstiftenden unterminiert und den Weg freigibt zu einer radikalen Subjektivierung der Kunstrezeption, in der nicht das lustvolle Zusammenspiel der Fakultäten charakteristisches Kunstmoment ist, sondern der schmerzhafte Zusammenbruch des Subjektgefüges und damit der Absturz in die Sprachlosigkeit.1

This is a preview of subscription content, log in via an institution to check access.

Access this chapter

Institutional subscriptions

Preview

Unable to display preview. Download preview PDF.

Unable to display preview. Download preview PDF.

Literatur

  1. Aristoteles, Poetik, Stuttgart 1982, S. 29 (1451 b).

    Google Scholar 

  2. Mir scheint der Wahnsinn der Brüder unwiderleglich, da es Kleist gerade um die rationalitätszersetzende Wirkung der Kunst zu tun ist. So ist das Verhalten der Vier denn auch keineswegs als eine Konversion zu deuten, bei der die vormals angefeindeten Zeichen des katholischen Glaubens dann zum Objekt der Anbetung werden, wie Donald Haase und Rachel Freudenberg es vorschlagen, denn offensichtlich singen die Brüder das Gloria gerade nicht, sondern brüllen es. Vgl. Haase und Freudenberg, Power, Truth, and Interpretation (wie Anm. 1), insbesondere S. 97. — Auch Dorothea von Mückes Argument, daß der Wahnsinn durch den institutionellen Rahmen definiert sei, der sie im Irrenhaus zu Irren macht, im Kloster aber zu Mönchen werden ließe, erscheint nicht plausibel, da das Verhalten der Brüder eben nicht mönchisch, sondern unfreiwillig parodistisch mönchisch ist. Der Wahnsinn der vereitelten Bilderstürmer äußert sich nicht in »mönchischer Schweigsamkeit und Askese« (110), sondern in der verzerrten Mimikry dieses Ethos, heißt es doch im Text (SW9 II, 220) von dem Gebaren der Brüder, daß sie nur anzubeten scheinen und den Inhalt des katholischen Glaubens nur einzusehen glaubten. Vgl. Dorothea von Mücke, Der Fluch der heiligen Cäcilie. In: Poetica 26 (1994), S. 105–120.

    Google Scholar 

  3. Diese gewalttätige Wirkung der Kunst hat insbesondere Peter Horn hervorgehoben, der von der »Entmenschung von vier Menschen zu gefühllosen Marionetten« spricht. Freilich bleibt zu fragen, wie Kleist denn das »Menschliche« denkt. Aber Horn scheint mir völlig recht zu haben, wenn er argumentiert, daß die Wirkung der Kunst hier keineswegs Heilung ist, sondern Aufhebung des Willens und der Erkenntnis und konsequenterweise die Vernichtung des Personseins. Vgl. Peter Horn, Heinrich von Kleists Erzählungen. Eine Einführung, König-stein/Taunus 1978, S. 196, 200. — Aber auch Dorothea von Mücke betont trotz ihres institutio-nell-diskursiven Interpretationsansatzes, daß die Kunst bei Kleist real destruktive Züge aufweist: »Die Utopie einer autonomen Kunst ist eine kataklystische Möglichkeit und ein traumatisches Ereignis.« Von Mücke, Fluch (wie Anm. 4), S. 120.

    Google Scholar 

  4. Gerhard Nestler, Geschichte der Musik, München 1979, S. 30.

    Google Scholar 

  5. Piaton, Der Staat, Hamburg 1993, S. 76. Einschränkend muß hier gesagt werden, daß Piaton nicht nur instrumenteile, sondern auch gesangliche Darbietungen und damit auch »das, was man durch Worte mitteilt« (S. 76) zur Musik rechnet.

    Google Scholar 

  6. Aristoteles, Politik, München 1973, S. 256–262.

    Google Scholar 

  7. Aurelius Augustinus, Bekenntnisse, München 1988, S. 284.

    Google Scholar 

  8. Wladyslaw Tatarkiewicz, Geschichte der Ästhetik. Zweiter Band: Die Ästhetik des Mit-telalters. Basel und Stuttgart 1980, S. 113, Zitat der Synodalempfehlung S. 121.

    Google Scholar 

  9. Lee Palmer Wandel, Voracious Idols and Violent Hands. Iconoclasm in Reformation, Zurich, Strasbourg, and Basel, Cambridge 1994, S. 98.

    Google Scholar 

  10. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Frankfurt a.M. 1974 (Theorie-Werkausgabe), S. 269.

    Google Scholar 

  11. Kant, Urteilskraft (wie Anm. 19), S. 249 f. Mir scheint, daß auch Bernd Fischer einen ähnlichen Gedankengang verfolgt, wenn er schreibt: »Die Magie der Musik liegt in ihrer Freiheit vom Gedanken.« Bernd Fischer, Ironische Metaphysik. Die Erzählungen Heinrich von Kleistsn, München 1988, S. 93.

    Google Scholar 

  12. Bernhard Greiner, Das ganze Schrecknis der Tonkunst. ›Die heilige Cäcilie oder Die Gewalt der Musik‹: Kleists erzählender Entwurf des Erhabenen‹. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 115 (1996), H. 4, S. 501–520, Zitat S. 519.

    Google Scholar 

  13. Es könnte allerdings fruchtbar sein, auch weiterhin das Erhabene als ein poetologisches Movens für Kleists Erzählung heranzuziehen, allerdings nicht das Kantsche, sondern den Hegelschen Diskurs über den Wahnsinn, von dem Kirk Pillow vorschlägt, ihn als eine Variante des Erhabenen zu lesen. Im dritten Band seiner ›Enzyklopädie‹, d.h. im Kontext der Anthropologie, argumentiert Hegel, daß eine Form des Wahnsinns als Resultat einer fixen Idee, die nicht ins Gesamt der Psyche integriert werden kann, verstanden werden muß. Diese Integrationsre-sistenz will Pillow als Manifestation der Erhabenheit sehen, die bei Hegel durch Gewohnheits-formation, »the soul’s work of art«, überwunden wird, so daß der Subjektformationsprozeß in letzter Instanz ebenfalls Produkt der ästhetischen Reflexion ist, die allerdings das Erhabene disziplinieren und in die Totalität der Psyche integrieren muß, womit das Kantsche Erhabene aufgehoben wird. Während Hegel wohl kaum den Wahnsinn als eine notwendige erhabene Phase der gelungenen Ichwerdung ansieht, wie Pillow das vorschlägt, und auch nicht nur die Etablierung von Gewohnheiten als Heilungsmittel vorschlägt (Hegel folgt dem medizinischen Diskurs seiner Zeit in reichlich obskuren Therapiemethoden, etwa wenn er erklärt: »Durch das Sichhinundherbewegen auf der Schaukel wird der Wahnsinnige schwindelig und seine fixe Vorstellung schwankend.«), so wird dennoch hier eine wichtige Verbindungslinie zwischen ästhetischem und psychopathologischem Diskurs gezogen, die nicht nur von der Romantik zur Psychoanalyse läuft, sondern durchaus auch in den Idealismus eingestrichelt ist. G.W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III, Frankfurt a.M. 1986, Zitat S. 181.

    Google Scholar 

  14. — Kirk Pillow, Sublime Understanding. Aesthetic Reflection in Kant and Hegel, Cambridge/Mass. 2000.

    Google Scholar 

  15. F.W.J. Schelling, System des transzendentalen Idealismus, Hamburg 1992, S. 282.

    Google Scholar 

  16. Man kann sich folglich kaum Jochen Schmidt anschließen, der argumentiert, Kleists Erzählung mache »die subjektiven Voraussetzungen der ›Überwindung‹ [der Seele] durch das zunächst Unerklärliche [die Musik] sichtbar«. Die subjektiven Prädispositionen zur Reaktion bleiben ja gerade im Dunkel, und weshalb die verschiedenen Zuhörergruppen so verschieden reagieren, kann eben nicht erklärt werden. Kleists Ziel ist somit nicht, wie Schmidt es sieht, »Selbsterkenntnis, Bewußtseinserhellung, Gefühlskorrektur«, sondern die Sichtbarmachung der Selbstentzogenheit des Subjekts. Jochen Schmidt, Heinrich von Kleist. Studien zu seiner poetischen Verfahrensweise, Tübingen 1974, S. 213.

    Book  Google Scholar 

  17. »So tritt bereits innerhalb der Romantik neben das philosophische Zentralinteresse am Ästhetischen das am Medizinischen; auch die Dichtung wird wachsend aufmerksam nicht nur auf sich selbst, sondern auch auf Krankheit und Arzt. Kunst begreift sich zunehmend selber als Therapie oder Symptom oder — pharmazeutisch-toxikologisch — als die Indifferenz beider: als stimulierende oder sedative Droge und artificielles Paradies. Genie wird zum Symptom unter Symptomen, Ästhetik zur Spezialität diagnostischer Praxis. Das vormals ästhetisch artikulierte Problem artikuliert sich — wenigstens notfalls — medizinisch.« Odo Marquard, Zur Bedeutung der Theorie des Unbewußten für eine Theorie der nicht mehr schönen Kunst. In: Ders., Aesthetica und Anaesthetica. Philosophische Überlegungen, Paderborn 1989, S. 43.

    Google Scholar 

Download references

Authors

Editor information

Günter Blamberger

Rights and permissions

Reprints and permissions

Copyright information

© 2002 Springer-Verlag GmbH Deutschland

About this chapter

Cite this chapter

Hammermeister, K. (2002). Kunstfeindschaft bei Kleist. In: Blamberger, G. (eds) Kleist-Jahrbuch 2002. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02896-9_10

Download citation

  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-02896-9_10

  • Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart

  • Print ISBN: 978-3-476-01930-1

  • Online ISBN: 978-3-476-02896-9

  • eBook Packages: J.B. Metzler Humanities (German Language)

Publish with us

Policies and ethics