Zusammenfassung
Die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung des letzten Jahrzehnts hat nicht nur ganz allgemein die Sensibilität für Vorgänge des Erinnerns gestärkt, sondern auch vielfältige Anstöße zu einer intensiveren Beschäftigung mit einzelnen Gestaltungen der Memoria gegeben. Dies gilt auch für die Heineforschung. Sicher nicht zufällig wurde der Zusammenhang von Gedächtnis und Erinnerung vor allem am »Romanzero« untersucht, sei es an einzelnen Gedichten wie »Jehuda ben Halevy«1 oder »Gedächtnißfeyer«2, sei es in Bezug auf den gesamten Zyklus.3 Das Verhältnis zu spezifisch jüdischen Traditionen des Gedenkens stand dabei häufig im Vordergrund und wurde als Teil der vertieften Beschäftigung Heines mit dem Judentum in seinem Spätwerk gewürdigt. Darüber hinaus lassen sich die Gestaltungen des Erinnerns im »Romanzero« jedoch auch zu allgemeineren Tendenzen der bürgerlichen Kultur des 19. Jahrhunderts in Beziehung setzen.
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Anmerkungen
Wolfgang Preisendanz: Memoria als Dimension lyrischer Selbstrepräsentation in Heines »Jehuda ben Halevy«. — In: Memoria. Vergessen und Erinnern, hrsg. von Anselm Haverkamp und Renate Lachmann. München 1993, S. 338–348.
Bodo Morawe: »Pauvre Homme«: Heines »Gedächtnisfeier«. Über Anmut und Würde im zwölften Lazarus-Gedicht des »Romanzero«. — In: GRM 50 (2000), S. 415–441.
Markus Hallensleben: Heines »Romanzero« als Zeit-Triptychon: Jüdische Memorliteratur als intertextuelle Gedächtniskunst. — In: HJb 40 (2001), S. 79–93.
Hartmut Steinecke: »The Lost Cosmopolite«: Heine’s Images of Foreign Cultures and Peoples in the Historical Poems of the Late Period. — In: Heinrich Heine and the Occident. Multiple Identities, Multiple Receptions, hrsg. von Peter Uwe Hohendahl und Sander L. Gilman. Lincoln und London 1991, S. 139–162, hier S. 146.
Gerhard Höhn: Heine-Handbuch. Zeit, Person, Werk. Stuttgart 1987, S. 122.
Steinecke [Anm. 4], S. 144.
Christoph Jamme: »Gott an hat ein Gewand«. Grenzen und Perspektiven philosophischer Mythos-Theorien der Gegenwart. Frankfurt/M. 1991, S. 255f.
Krzysztof Pomian: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. Berlin 1988, S. 69f.
Susanne Fliegner: Der Dichter und die Dilettanten. Eduard Mörike und die bürgerliche Geselligkeitskultur des 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1991, S. 209f.
Pomian [Anm. 8], S. 70.
Günter Oesterle: Eingedenken und Erinnern des Überholten und Vergessenen. Kuriositäten und Raritäten in Werken Goethes, Brentanos, Mörikes und Raabes. — In: Literatur und Geschichte 1788–1988, hrsg. von Gerhard Schulz und Tim Mehigan. Bern, Frankfurt/M., New York, Paris 1990, S. 81–111, hier S. 83; zur Geschichte und den Ordnungsprinzipien der Kunstkammern s. Horst Bredekamp: Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte. Berlin 1993; dort auch Hinweise auf weitere Literatur.
Vgl. Andreas Böhn: ›Die Sonne im Dintenfaß sich spiegeln will‹ Idylle und Geschichte in Mörikes »Der alte Turmhahn«. — In: »Der Sonnenblume gleich steht mein Gemüthe offen«. Neue Studien zum Werk Eduard Mörikes (mit einer Bibliographie der Forschungsliteratur 1985–1995), hrsg. v. Reiner Wild. St. Ingbert 1997, S. 133–147.
Dies konstatiert auch Hallensleben [Anm. 3], S. 83.
Zitate aus »Vitzliputzli« werden nach DHA III/1 nur mit Seitenzahl und Versnummer nachgewiesen. An anderer Stelle (Andreas Böhn: Der fremde Mythos und die Mythisierung des Fremden. Heines politisch-literarische Mythologie in »Vitzliputzli«. — In: Aufklärung und Skepsis. Internationaler Heine-Kongreß 1997 zum 200. Geburtstag, hrsg. von Joseph A. Kruse, Bernd Witte und Karin Füllner. Stuttgart und Weimar 1998, S. 367–378) habe ich ausführlicher zu zeigen versucht, dass »Vitzliputzli« vor den Hintergrund von Heines eigener Mythostheorie gestellt werden muss, die sich in ihm niederschlägt, aber in einer sehr komplexen Art und Weise poetisch transformiert wird.
S. Markus Winkler: Mythisches Denken zwischen Romantik und Realismus. Zur Erfahrung kultureller Fremdheit im Werk Heinrich Heines. Tübingen 1995, S. 212–231.
Um mit der bekannten Formel Blumenbergs zu reden; vgl. den Schlussabschnitt in: Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt/M. 1979, 3. durchges. Aufl. 1984, S. 679–689.
Vgl. DHA III/2, S. 679.
Auch John C. Pettey spricht von »mutual misunderstanding« (John Carson Pettey: Anticolonialism in Heine’s »Vitzliputzli«. — In: CollGerm 26 (1993), S. 37–47). Es ist allerdings, wie ich meine, eine Überinterpretation dieser Relativierung, wenn man in ihr gleich ein Modell interkultureller Wechselwirkung sehen wollte, wie dies Susanne Zantop tut (Susanne Zantop: Colonialism, Cannibalism, and Literary Incorporation: Heine in Mexico. — In: Heinrich Heine and the Occident. [Anm. 4], S. 110–138). Zantop extrahiert aus Heines Text ein allgemeines Modell von ›Kannibalismus‹ als Einverleibung einer Kultur durch eine andere, das im zwanzigsten Jahrhundert im Zusammenhang mit lateinamerikanischer Identitätsfindung entwickelt wurde. Das Konzept als solches kann sicherlich als Basis einer Rezeptionstheorie dienen, wozu es von Zantop im Hauptteil ihres Aufsatzes auch genutzt wird. Aus »Vitzliputzli« ist es aber nicht analytisch, sondern nur metaphorisch-assoziierend zu entwickeln, so dass Zantop eine Brücke von dem Gedicht zu den Eigentümlichkeiten seiner mexikanischen Rezeption schlagen und Heine eine weitere Nuance bislang unentdeckter Modernität zuschreiben kann. Die historische Bedingtheit und individuelle Besonderheit von Heines Behandlung des aztekischen Mythos erhellt das moderne Konzept des ›Kannibalismus‹ aber nicht.
Hallensleben [Anm. 3], S. 83.
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Böhn, A. (2003). Erinnerungswelten. Geschichte und Exotik im »Romanzero«. In: Kruse, J.A. (eds) Heine-Jahrbuch 2003. Heine-Jahrbuch. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02887-7_2
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