Zusammenfassung
»Wozu überhaupt eine Autobiographie?« fragt sich Doris Lessing in ihren 1994 erschienenen Lebenserinnerungen Unter der Haut1, und sie bekennt: »Zum Selbstschutz: Es entstehen bereits die ersten Biographien. Das ist beunruhigend, als ob man im angenehmen Halbdunkel eine ebene und oft langweilige Straße entlanggeht, aber weiß, daß jeden Moment ein Suchscheinwerfer aufleuchten kann.«2 Besonders beunruhigend findet Doris Lessing die Tendenz zur mangelnden Sorgfalt im Umgang mit biographischen Angaben. »Aber Fakten zählen ohnehin immer weniger«, stellt sie fest, »und das liegt unter anderem daran, daß Schriftsteller wie Haken sind, an denen die Leute ihre Phantasien aufhängen. Wenn es Schriftstellern wichtig ist, daß etwas, das über sie geschrieben wird, irgendwo mit der Wahrheit zu tun haben sollte — kann das bedeuten, daß wir kindisch sind?«3
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Notizen
Ich zitiere nach der deutschen Ausgabe: Doris Lessing: Unter der Haut. Autobiographie 1919–1949. München 1994, S. 28.
Diese Begriffe werden im Folgenden (in Anführungszeichen) trotz der damit verbundenen Definitionsschwierigkeiten verwendet, um den entsprechenden (Literatur-)historischen Problemkontext aufzurufen. Für die neueren Diskussionen, ob man bei Schriftstellerinnen überhaupt von ›Werken‹ sprechen sollte und ob ›Leben‹ außerhalb von Texten zu erfassen sei, vgl. die entsprechende Forschungsliteratur, etwa: Barbara Hahn: Brief und Werk: Zur Konstruktion von Autorschaft um 1800. In: Ina Schabert und Barbara Schaff (Hg.): Autorschaft. Genus und Genie in der Zeit um 1800. Berlin 1994, S. 145–156;
Ulfert Riclefs: Leben und Schrift. Autobiographische und biographische Diskurse. Ihre Intertextualität in Literatur und Literaturwissenschaft (Edition). In: Editio 9 (1995), S. 37–62;
Monika Schmitz-Emans: Das Leben als literarisches Projekt. Über biographisches Schreiben aus poetischer und literaturtheoretischer Perspektive. In: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History, Jg. 8 (1995), Heft 1, S. 1–27.
Vgl. die Beiträge des sechsten Bandes von Querelles. Jahrbuch für Frauenforschung: Irmela von der Lühe und Anita Runge (Hg.): Biographisches Erzählen. Stuttgart/Weimer 2001.
Rachel Gutiérrez: What Is a Feminist Biography? In: Teresa Iles (Hg.): All Sides of the Subject. Women and Biography. New York/London 1992, S. 49.
Vgl. Roderich Fueß: Der neuralgische Punkt. Notizen zur Rolle des Geschichtlichen in Biographie und Roman. In: Sprache im technischen Zeitalter 31 (1993), Heft 125, S. 68–96, hier S. 92 f. Zum fortdauernden Interesse auch an der Verständigung über die künstlerischen Aspekte des Verfassens von Biographien vgl. etwa die Dokumentation einer Biographie-Tagung im British Council in Paris in: Franco-British Studies 24/25, 1998;
außerdem: Nigel Hamilton: A Defence of the Practice of Biography. In: Contemporary British History 10 (1996), Heft 4, S. 81–87;
Carol Gelderman: Ghostly Doubles: Biographer and Biographee. In: The Antioch Review 54 (1996), Heft 3, S. 328–336;
Jeffrey Meyers: The Spirit of Biography. Ann Arbor/London 1989;
Sanford Pinsker: Literary Biographers. Looking Over Their Shoulders. In: The Georgia Review 52 (1998), Heft 2, S. 362–374;
Carl Rollyson: Biography as a Genre. In: Choice /Monthly 35 (1997), Heft 2, S. 249–258.
Vgl. auch Sigrid Lörffler: Biografie. Ein Spiel. Warum die Engländer Weltmeister in einem so populären wie verrufenen Genre sind. In: Literaturen. Heft 7/8 (2001), S. 14–18. Auch Doris Lessing spricht vom »goldene[n] Zeitalter der Biographie« in Großbritannien, vgl. Lessing 1994 (wie Anm. 1),S. 28.
Vgl. Helmut Scheuer: Biographik und Literaturwissenschaft: Konstruktion und Dekonstruktion.Anna Seghers und ihre Biographen. In: Argonautenschiff. Jahrbuch der Anna-Seghers-Gesellschaft, Jg. 4 (1995), S. 245–262, hier S. 254 f.;
vgl. auch Helmut Scheuer: Biographie. Studien zur Funktion und zum Wandel einer literarischen Gattung vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Stuttgart 1979.
Vgl. Carola Stern: Der Text meines Herzens. Das Leben der Rahel Varnhagen. Reinbek 1996, S. 284.
Jürgen Kocka: Bemerkungen im Anschluss an das Referat von Dietrich Harth. In: Hartmut Eggert, Ulrich Profitlich und Klaus R. Scherpe (Hg.): Geschichte als Literatur. Formen und Grenzen der Repräsentation von Vergangenheit. Stuttgart 1990, S. 24–28, hier S. 25.
Vgl. Pierre Bourdieu: Die biographische Illusion. In: ders.: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Frankfurt/M. 1998, S. 75–83.
Siegfried Kracauer: Die Biographie als neubürgerliche Kunstform. In: ders.: Das Ornament der Masse. Frankfurt/M. 1977, S. 75–80.
Vgl. Günter Blöcker: Biographie — Kunst oder Wissenschaft? In: Adolf Frisé (Hg.): Definitionen. Essays zur Literatur. Frankfurt/M. 1963;
Christoph Gradmann: Geschichte, Fiktion und Erfahrung. Kritische Anmerkungen zur neuerlichen Aktualität der historischen Biographie. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 17 (1992), Heft 2, S. 1–16;
Grete Klingenstein und Heinrich Lutz (Hg.): Biographie und Geschichtswissenschaft.Ansätze zu Theorie und Praxis biographischer Arbeit. Wien 1979;
Jürgen Kocka und Thomas Nipperdey (Hg.): Theorie und Erzählung in der Geschichte. München 1979;
Hans-Martin Kruckis: Biographie als literaturwissenschaftliche Darstellungsform im 19. Jahrhundert. In: Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp (Hg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Stuttgart 1994, S. 550–575;
Ernst Ribbat: Leben und Werk. Vorbemerkungen zum Verhältnis von Biographie und Literaturhistorie. In: Zeitschriftfür Literaturwissenschaft und Linguistik, Beiheft 10 (1979), S. 65–79;
Ina Schabert: Fictional Biography, Factual Biography and their Contaminations. In: Biography 5 (1982), Heft 1, S. 1–16.
Anne-Kathrin Reulecke: »Die Nase der Lady Hester«. Überlegungen zum Verhältnis von Biographie und Geschlechterdifferenz. In: Hedwig Röckelein (Hg.): Biographie als Geschichte. Tübingen 1993, S. 117–142, hier S. 117.
Sigrid Weigel: Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses. Wien 1999, S. 297 f.
Toril Moi: Simone de Beauvoir. Die Psychographie einer Intellektuellen. Frankfurt/M. 1996, S. 26 f.
Vgl. auch Julia Kristeva: Das weibliche Genie. Hannah Arendt. Berlin 2001. Die Problematik dieses Verfahrens liegt in der notwendigen Konzentration auf herausragende weibliche Intellektuelle und Schriftstellerinnen und auf einer Höhenkammperspektive, die aufs Neue marginalisierte Schriftstellerinnen der Literaturgeschichte ausschließt.
Carolyn Heilbrun: Writing a Woman’s Life. New York 1988.
Zu den Kontroversen innerhalb dieser Diskussionen vgl. Linda Wagner-Martin: Telling Women’s Lives. The New Biography. New Brunswick/New Jersey, 1994, S. IX f.
Teresa Iles: Introduction. In: dies. (Hg.) 1992 (wie Anm. 8), S. 8.
Liz Stanley: Process in Feminist Biography and Feminist Epistemology. In: Iles (Hg.) 1992 (wie Anm. 8), S. 109–125.
Stephanie Bird: Recasting Historical Woman. Female Identity in German Biographical Fiction. Oxford/New York 1998.
Vgl. Christa Bürger: Leben Schreiben. Die Klassik, die Romantik und der Ort der Frauen. Stuttgart 1990, S. VIII.
Vgl. auch dies. (Hg.): Literatur und Leben. Stationen weiblichen Schreibens im 20. Jahrhundert. Stuttgart 1996.
Vgl. Christa Bürger: »Die mittlere Sphäre«. Sophie Mereau — Schriftstellerin im klassischen Weimar. In: Gisela Brinker-Gabler (Hg.): Deutsche Literatur von Frauen. Bd. 1: Vom Mittelalter bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. München 1988, S. 366–388.
Zur Bedeutung einer klaren Abgrenzung vgl. Marlies Janz: Text und Biographie in der Diskussion um Celan — Bachmann. In: Andrei Corbea-Hoisie (Hg.): Paul Celan. Biographie und Interpretation/Biographie et interprétation. Konstanz/Paris u. a. 2000, S. 60–68.
Zit nach: Günther Rühle (Hg.): Materialien zu Leben und Schreiben der Marieluise Fleißer. Stuttgart 1973, S. 430.
Elke Brüns: Keine Bürgerin der Spiegelstadt? Marieluise Fleißer: Autobiographismus als Rezeptionsstrategie. In: Michaela Holdenried (Hg.): Geschriebenes Leben. Autobiographik von Frauen. Berlin 1995, S. 324–338. Vgl. auch Anita Runge: ›Leben‹ — ›Werk‹ — Profession. Zum Umgang mit biographischen Dokumenten bei Schriftstellerinnen. In: Irmela von der Lühe, Anita Runge 2001 (wie Anm. 7), S. 70–84;
dies.: Marieluise Fleißer: »Biographie« — Konstruktionen an der Schnittstelle zwischen »Leben« und »Werk« (erscheint 2002).
Vgl. Gisela von Wysocki: Die Magie der Großstadt — Marieluise Fleißer. In: dies.: Die Fröste der Freiheit. Aufbuchsphantasien. Frankfurt/M. 1980, S. 9–22.
Sissi Tax: marieluise fleißer. schreiben, überleben, ein biographischer Versuch. Basel/Frankfurt/M. 1984.
Moray McGowan: Marieluise Fleißer. München 1987.
Günther Lutz: Marieluise Fleißer. Verdichtetes Leben. Dachau 1989.
Jutta Sauer: »Etwas zwischen Männern und Frauen«. Die Sehnsucht der Marieluise Fleißer. Köln 1991, S. 8.
Ina Brueckel: Ich ahnte den Sprengstoff nicht. Leben und Schreiben der Marieluise Fleißer. Freiburg 1996.
Sabine Göttel: »Natürlich sind es Bruchstücke«. Zum Verhältnis von Biographie und literarischer Produktion bei Marieluise Fleißer. St. Ingbert 1997, S. 19.
Vgl. Maria E. Müller und Ulrike Vedder (Hg.): Reflexive Naivität. Zum Werk Marieluise Fleißers. Berlin 2000.
Hiltrud Häntzschel: »Diese Frau ist ein Besitz«. Marieluise Fleißer aus Ingolstadt. Zum 100. Geburtstag. Marbach 2001, S. 33.
Es ist bemerkenswert, dass bis heute in der Schriftstellerinnen-Biographik oft sehr konventionelle, an der männlichen Berufsbiographie orientierte Darstellungsformen dominieren. Einige neuere Beispiele (ohne Anspruch auf Vollständigkeit): Areti Georgiadou: »Das Leben zerfetzt sich mir in tausend Stücke«. Annemarie Schwarzenbach. Eine Biographie. Frankfurt/M. 1995;
Dagmar von Gersdorff: Kaschnitz. Eine Biographie. Frankfurt/M./Leipzig 1992;
Cilly Helfrich: »Es ist ein Aschensommer in der Welt«. Rose Ausländer. Biographie. Weinheim u. a. 1995;
Angelika Jacob: Muss wandeln ohne Leuchte: Annette von Droste-Hülshoff — eine poetische Biographie. Paderborn 1994;
Brigitta Kubitschek: Franziska Gräfin zu Reventlow. Leben und Werk. München u. a. 1998.
eine Ausnahme stellt z. B. die Arbeit von Angelika Schaser: Helene Lange und Gertrud Bäumer. Eine politische Lebensgemeinschaft. Köln/Weimar/Wien 2000, dar.
Vgl. Renate von Heydebrand: Vergessenes Vergessen. Frauen als Objekt und Subjekt literarischen Gedächtnisses. In: Kati Rötger und Heike Paul (Hg.): Differenzen in der Geschlechterdifferenz. Aktuelle Perspektiven der Geschlechterforschung. Berlin 1999, S. 136–155;
Ein Beispiel für einen historischen Längsschnitt durch die Möglichkeiten der Literarisierung eines Schriftstellerinnenlebens: Uta Schaffers: Auf überlebtes Elend blick ich nieder. Anna Louisa Karsch — Literarisierung eines Lebens in Selbst- und Fremdzeugnissen. Göttingen 1997.
Vgl. Elke Brüns: außenstehend, ungelenk, kopfüber weiblich. Psychosexuelle Autorpositionen bei Marien Haushofer, Marieluise Fleißer und Ingeborg Bachmann. Stuttgart/Weimar 1998, S. 155.
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Runge, A. (2002). Geschlechterdifferenz in der literaturwissenschaftlichen Biographik. Ein Forschungsprogramm. In: Klein, C. (eds) Grundlagen der Biographik. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02884-6_8
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