Zusammenfassung
Im Jahre 1811 erscheint als Fortsetzungsgeschichte eine Erzählung Heinrich von Kleists unter dem Titel Die Verlobung. |02| Als Eröffnungstext des zweiten Bandes der von Kleist selbst gesammelten und in ihrer Zusammenstellung organisierten Erzählungen wird der Titel durch den Zusatz der Ortsangabe verändert: Die Verlobung in St. Domingo. Mit dieser Veränderung meldet sich der Anspruch an, den Text zu historisch und politisch hoch aktuellen Zusammenhängen in Bezug zu setzen. Hintergrund sind die Französische Revolution von 1789 und die, wie der Erzähler eher mißbilligend erwähnt, „unbesonnenen Schritte“ (8) des Nationalkonvents, die Sklaverei aufzuheben und die Befreiung aller Sklaven zu fordern. Die Unbesonnenheit, so läßt der Erzähler weiter erkennen, ist mitverantwortlich für die anarchische Erhebung der Unterdrückten in den französischen Kolonien, zu denen auch Haiti gehörte. In „St. Domingo“ stand der haitianische Politiker und General Toussaint Louverture |03| an der Spitze des gewaltsamen Sklavenaufstandes gegen die Kolonialmächte. Wenn Kleist bereits im Titel auf diesen Schauplatz referiert, nimmt er nicht nur eine örtliche, sondern auch eine politische Verortung vor. Sie liegt in der von Machtansprüchen geleiteten Verbindung zwischen dem „Europa der Nationen“ und den überseeischen Kolonien, die ein neues politisches Dispositiv hervorgebracht hat: Es artikuliert sich als problematisches Verhältnis zwischen dem ‘Eigenen’ und dem ‘Fremden’, das noch heute die Debatten um Nationalstaatlichkeit, Migration, Rassismus und Globalisierung grundiert. |04|
Kleist 1988, „Verlobung“. Im folgenden wird nach dieser Ausgabe im laufenden Text zitiert.
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Schuller, M. (2002). Lesen im Lichte des dunklen Kontinentes Text. Zur Ordnung des Geschlechts in Heinrich von Kleists Erzählung: ‘Die Verlobung in St. Domingo’. In: Baisch, K., Kappert, I., Schuller, M., Strowick, E., Gutjahr, O. (eds) Gender Revisited. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02878-5_2
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