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Zusammenfassung

Viele Kulturen haben mit dem Begriff der »Schriftgelehrten« die kleine Gruppe einer schriftkundigen Elite bezeichnet, der die Aufgabe des Sammeins, Bewah rens, Überlieferns, Deutens und Übersetzens heiliger Texte zukam. In unseren Tagen muß diese Position der Schriftgelehrten neu vergeben und besetzt werden: Sie geht in die Kompetenz von Medien- und Kulturwissenschaftlern über, die im digitalen Zeitalter nicht nur zunehmend die Position spezialisierter »Schriftanwender« einnehmen, sondern vielmehr damit begonnen haben, einen Diskurs über die Schrift zu initiieren, eine vielgestaltige Reflexion über das eigene Medium zu führen.

Der Jüngling aber schrieb alles auf nach der Anweisung des Alten und las es, den Kopf auf der Schulter, sich selber vor, bis er es auswendig wußte. Das Lesen und Schreiben war selbstverständlich die Grundlage von allem und begleitete alles; denn es wäre sonst nur ein verwehendes Hörensagen und Wiedervergessenwerden gewesen unter den Menschen. Darum mußte Joseph sehr gerade hocken unter dem Baum, die Knie gespreizt, und in seinem Schoße das Schreibzeug halten, die Tontafel, in die er mit dem Griffel keilförmige Zeichen grub, oder die geklebten Blätter aus Schilfgewebe, das geglättete Stück Schaf- oder Ziegenhaut, darauf er mit dem faserig zerkauten oder spitz zugeschnittenen Rohr seine Krähenfüße aneinanderreihte, indem er es in den roten und schwarzen Napf seiner Tuschtafel tauchte. Abwechselnd schrieb er die Landes- und Menschenschrift, die zur Befestigung seiner täglichen Redeweise und Mundart taugte und in der sich Handelsbriefe und -aufstellungen nach phönizischem Muster am säuberlichsten zu Blatt bringen ließen, — und auch wieder die Gottesschrift, die amtlich-heilige von Babel, die Schrift des Gesetzes, der Lehre und der Mären, für die es den Ton gab und den Griffel. Eliezer besaß zahlreiche und schöne Muster davon, Schriftstücke, die die Sterne betrafen, Hymnen an Mond und Sonne, Zeittafeln, Wetterchroniken, Steuerlisten sowie Bruchstücke großer Versfabeln der Urzeit, die erlogen waren, doch mit so kecker Feierlichkeit in Worte gebracht, daß sie dem Geiste wirklich wurden.

Thomas Mann: Der junge Joseph

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Vittoria Borsò Gertrude Cepl-Kaufmann Tanja Reinlein Sibylle Schönborn Vera Viehöver

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Borsò, V., Cepl-Kaufmann, G., Reinlein, T., Schönborn, S., Viehöver, V. (2002). Einleitung. In: Borsò, V., Cepl-Kaufmann, G., Reinlein, T., Schönborn, S., Viehöver, V. (eds) Schriftgedächtnis — Schriftkulturen. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02870-9_1

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  • Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart

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